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Serbien nach der Präsidentenwahl und vor der Regierungsbildung

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In Belgrad hat gestern der neue serbische Präsident Tomislav Nikolic seinen Amtseid abgelegt. Nikolic hat Mitte Mai überraschend gegen den favorisierten Amtsinhaber Boris Tadic die Stichwahl gewonnen. Nikolic hat als Präsident nur wenig Macht, doch er will die neue Regierung kontrollieren, die nach den Parlamentswahlen Anfang Mai noch gebildet werden muss. Neuer Ministerpräsident soll übrigen Boris Tadic werden, dessen Regierungspartei DS offenbar vor dem Abschluss von Koalitionsverhandlungen steht. Bis Montag soll bereits der Pakt mit dem bisherigen Partner, den Sozialisten und einer weiteren Partei stehen. Serbien stehen aber nicht nur eine schwierige Kohabitation und ein noch schwierigerer Kampf gegen Armut und Wirtschaftskrise bevor. Denn dem ehemaligen serbischen Ultranationalisten Tomislav Nikolic wird vor allem am Balkan mit großen Vorbehalten begegnet, obwohl er den Weg Serbiens Richtung EU nunmehr ebenfalls unterstützt und für gute Beziehungen zu den Nachbarn eintritt. Über die politische Entwicklung in Serbien berichtet nun unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz

Der 60-jährige Tomislav Nikolic will ein volksnaher Präsident sein; daher kam er gestern Nachmittag zu Fuß zum Parlament in Belgrad und begrüßte zunächst seine Anhänger; einen Kuss gab es noch für eines seiner fünf Enkelkinder ehe Nikolic zur Vereidigung ins Parlament ging. Mit der serbischen Hymne endete der festliche Teil; anschließend kritisierte der neue Präsident in seiner Antrittsrede seinen Amtsvorgänger Boris Tadic und dessen Regierungspartei massiv; Tomislav Nikolic:

„Korruption, Bestechung und Kriminalität erzeugen eine allgemeine Unsicherheit für die Bürger und ein Misstrauen in die Institutionen. Vernachlässigt sind die Dörfer, ganze Bezirke sind verlassen und das führt zum Druck auf die Städte. Hinzu kommen die negative Geburtenrate und eine überalterte Nation. Die Aussichten für die Zukunft sind pessimistisch. In der Entwicklung des Landes haben wir nicht-demokratischen Prinzipien nachgegeben. Die Medien sind unter Kontrolle oder im Eigentum der politischen Elite. Sogar die Reform der Justiz wurde im Einklang mit Parteiinteressen durchgeführt.“

Parteiinteressen will Nikolic in den Hintergrund stellen. Daher hat er den Vorsitz in seiner Fortschrittspartei SNS zurückgelegt; die SNS wurde bei der Parlamentswahl zwar stärkste Kraft, findet aber nicht genug Koalitionspartner für eine Mehrheit. Daher werde Tomislav Nikolic innenpolitisch überwiegend wohl nur die Rolle des Kritikers der Regierung spielen können, analysiert der Politologe Dusko Radosavljevic:

„Wenn der Präsident nicht die Parlamentsmehrheit kontrolliert, dann fällt er auf eine Position zurück, die etwa die Präsidenten in Österreich oder Deutschland haben, das sind dann vor allem zeremonielle Aufgaben; wenn seine Partei nicht die Regierung bildet, wird sich Nikolic bewusst werden müssen, wie seine reale Lage ist und auch gezwungen sein, Schritte der Regierung zu akzeptieren, mit denen er persönlich nicht einverstanden ist.“

Diese Regierung dürften die bisherigen Koalitionspartner dominieren, die Demokratische Partei von Boris Tadic und das sozialistische Wahlbündnis unter Führung von Innenminister Ivica Dacic. Beide brauchen für die absolute Mehrheit aber noch einen Partner; dieser dürfte die kleine Liberale Partei sein; doch noch wird verhandelt und unklar ist auch die Verteilung der Macht zwischen Demokraten und Sozialisten. Sicher ist, dass Tadic neuer Regierungschef wird; dabei hatte er am Abend seiner Niederlage bei der Präsidentenwahl noch erklärt: „Ich werde sicher nicht neuer Regierungschef sein.“

Diese Kehrtwende erklärt Dusko Radosavljevic so:

„Tadic hatte folgende Wahl: Entweder konnte er Chef der neuen Regierung werden oder binnen sechs Monaten in seiner Partei ohne Funktion dastehen. Eine andere Lösung gibt es nicht. Als intelligenter Politiker begriff er, dass es besser ist, Regierungschef zu sein.“

Tadic als Regierungs- und Parteichef dient den Interessen seiner politischen Kronprinzen; sie sind tief verfeindet und keiner ist bisher stark genug, um die Führung übernehmen zu können. Tadic und die Partei sind durch seine Niederlage und das schlechte Abschneiden bei der Parlamentswahl geschwächt. Eigentlicher Wahlsieger sind die Sozialisten, denen im Staat mehr Macht zufallen wird. Hinzu kommt Nikolics SNS, die als Oppositionspartei leichtes Spiel haben dürfte, weil die Regierung vor eine Herkules-Aufgabe steht. Jeder vierte Serbe ist arbeitslos, die Verschuldung steigt rasant, und Wirtschaftsexperten fordern ein Einfrieren von Löhnen und Pensionen im öffentlichen Sektor. Hinzu kommt die grassierende Korruption. Auf dem Weg Richtung EU schlage für Tadics Partei die Stunde der Wahrheit, betont die liberale Politologin Jelena Milic:

„Dann wird die tatsächliche Transformation der Gesellschaft beginnen müssen, und dann werden wir sehen, ob die DS nur wegen eines Teils ihrer Wähler proeuropäisch war, während es in Wahrheit einen Interessenskonflikt mit vielen ihrer Mitglieder gibt, die geschäftliche Interessen haben. Und diese haben kein Interesse an einer Ordnung der Justiz und der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Daher wird sich nun zeigen, ob die DS tatschlich eine wahrhaft europäische Partei ist.“

Nach außen muss vor allem der neue serbische Präsident Tomislav Nikolic sein Bekenntnis zur EU beweisen, weil seine ultranationalistische Vergangenheit noch keineswegs vergessen ist. Darauf verweist der Belgrader Politologe Zoran Stojiljkovic

„Nikolic muss sich beweisen als ausreichend guter Präsident, der für die EU annehmbar ist und auch für die Länder der Region, was noch wichtiger ist, weil diese noch skeptischer sind. Ich glaube, dass Nikolic in den ersten Monaten alles tun wird, um zu zeigen, dass er ein guter Präsident mit demokratischem Verhalten ist.“

Doch Nikolics Inaugurationsfeier findet in zehn Tagen statt; und Kroatiens Präsident Ivo Josipovic will nur nach Belgrad kommen, wenn Nikolic zuvor großserbischen Ideen eine klare Absage erteilt, die er jüngst neuerlich hat anklingen lassen. Zur Vertrauensbildung wird Nikolics Bekenntnis zu guten Beziehungen mit den Nachbarn daher nicht ausreichen. Doch gravierende Veränderungen erwartet der Politikwissenschaftler Dusko Radosavljevic nicht:

„Auch Boris Tadic hatte keine besonders guten Beziehungen mit den Ländern in der Region. Daher ist nicht zu erwarten, dass Nikolic hier rasch etwas verbessern oder verschlechtern wird. Doch Nikolic wird sich bemühen, kein schlechter Präsident zu sein, das wäre ein Grund, um ihn politisch zu marginalisieren, das wird er als erfahrener Politiker wohl nicht zulassen.“

Außen- wie innenpolitisch stehen Nikolic und Tadic somit vor großen Herausforderungen; das könnte die Basis für eine tragfähige Zusammenarbeit werden, hofft Zoran Stojiljkovic:

„Tadic braucht als Ministerpräsident einen kooperativen Nikolic, während Nikolic einen Tadic braucht, der ihm nicht übermäßig kritisch gegenübersteht und der ihm den Eintritt in dieses Feld der Politik ermöglicht. Beide brauchen einander, weil keiner von beiden allein die Verantwortung übernehmen will. Wie lang diese Zweckehe dauert, werden wir sehen.“

Diese Zweckehe umfasst auch die Politik gegenüber dem Kosovo, die Tadic nicht allein verantworten will. Boris Tadic:

„Es wird notwendig sein, dass es auf allen politischen Ebenen zu einer Koordination kommt; das gilt auch für die Bewahrung der territorialen Integrität Serbiens und für die Außenpolitik. Wir hatten ein gutes Gespräch und das wird sicher nicht das letzte gewesen sein.“

Ein weiteres dürfte folgen, nachdem Tomislav Nikolic Mitte Juni zum ersten Mal als Staatspräsident in Brüssel gewesen ist; dabei werden EU-Beitrittsverhandlungen und die weitere Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo im Vordergrund stehen. Dazu sagte Nikolic gestern bei seiner Pressekonferenz:

„Was im Kosovo geschieht, liegt nicht in der Hand nur eines Politikers oder einer Partei, sondern in der Hand aller Bürger Serbiens. Was immer wir Politiker entscheiden, werden die Bürger in einem Referendum beschließen müssen. Es gibt Indizien, dass Europa den Entscheidungsprozess über die EU-Beitrittsverhandlungen in Verbindung mit dem Abschluss der Verhandlungen mit dem Kosovo beschleunigen will. Nach meinen Gesprächen mit den Entscheidungsträgern in Brüssel geht es auch um einen Konsens in Serbien darüber, was die EU als Lösung ansieht.“

Selbst um den Preis der EU-Mitgliedschaft kommt für Nikolic eine Anerkennung des Kosovo derzeit nicht in Frage. Ähnlich argumentiert Boris Tadic; so eint auch das Kosovo-Dilemma beide Politiker; sie spielen wahrscheinlich auf Zeit, denn sie wissen, dass fünf EU-Staaten die Unabhängigkeit bisher nicht anerkannt haben und bis zum EU-Beitritt Serbiens wohl noch zehn Jahre vergehen werden.

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