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Sozial und wirtschaftliche Lage in Serbien nach vier Jahren Reform-Regierung

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Berichte Serbien
In Serbien finden Anfang Mai Präsidenten- Parlaments- und Lokalwahlen statt. Dieser Superwahlsonntag ist für die österreichische Wirtschaft von großem Interesse. Denn heimische Firmen haben seit der demokratischen Wende im Herbst 2000 2,8 Milliarden Euro in Serbien investiert und sind damit größter ausländischer Investor. Der bilaterale Außenhandel bracht im Krisenjahr 2009 um 20 Prozent ein, hat aber nunmehr mit mehr als 800 Millionen Euro pro Jahr wieder das Niveau des Jahres 2008 erreicht. Dabei ist Serbien von einer wirtschaftlichen Erholung weit entfernt, obwohl das Land im März den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten hat. De facto ist jeder vierte Serbe arbeitslos, stieg die Arbeitslosenrate binnen vier Jahren von 15 auf 24 Prozent. Drastisch gestiegen sind auch die Lebenshaltungskosten. Der Preis für einen Liter Eurodiesel hat sich binnen vier Jahren mehr als verdoppelt und liegt nun bei 1,4 Euro; während der Durchschnittslohn bei umgerechnet nur 350 Euro im Monat liegt. Wie unter diesen Umständen Familien in Serbien leben und welche wirtschaftlichen Perspektiven das Land auf dem Weg Richtung EU hat, darüber hat unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz den folgenden Beitrag gestaltet:

30 Kilometer nördlich von Belgrad liegt der 3.300 Einwohner zählende Ort Simanovici. Die Infrastruktur ist schlecht und auch die an der Autobahn liegenden Firmen haben bessere Zeiten gesehen. In Simanovci lebt der 37-jährige Bojan, seine 29 Jahre alte Frau Jelena und Sohn Marko, der zweieinhalb Jahre alt ist. Die drei wohnen mit Bojans Eltern in einem Einfamilienhaus, während Jelenas Eltern in einer Nachbargemeinde leben. Bojan fährt jeden Tag mit einem Kollegen mit dem Firmenwagen nach Belgrad zur Arbeit in eine Bierbrauerei. Sein Monatslohn beträgt 350 Euro netto. Ehefrau Jelena macht eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und sorgt sich um Sohn Marko. Denn beide Großeltern sind krank, daher können sie die Rolle des Babysitters nur zeitweise spielen. Die Pension der Großeltern bringt monatlich 450 Euro. Das gesamte Monatsbudget der sieben Personen beträgt somit 800 Euro. Wie damit gewirtschaftet wird, beschreibt Ehefrau Jelena:

„Sagen wir, dass wir pro Monat etwa 200 Euro zahlen aber nur für den Strom. Hinzu kommen Wasser, Müllabfuhr und das Essen, sowie die Kosten für das Kind und den Kindergarten. Und dann muss man noch einen Monat leben, bis wieder Geld hereinkommt. Das ist sehr schwierig, das ist wirklich schwer.“

Etwas gemildert wird der finanzielle Engpass durch drei Faktoren. Jelenas Vater arbeitet privat als Kunstschmied, ihr Mann Bojan nutzt regelmäßig den Überziehungsrahmen am Gehaltskonto in der Höhe von 450 Euro, und die Familie züchtet Hühner und Truthähne für die Eigenversorgung, und einmal pro Jahr wird vom Bauern ein Schwein gekauft und auf Raten abbezahlt. Für Extras bleibe jedenfalls kaum Geld, betont Bojan:

„Wir geben alles für das Essen und für Gebühren und Lebenshaltungskosten aus. Ich habe mir wahrscheinlich bereits ein Jahr lang nichts mehr zum Anziehen gekauft. Alles haben wir für das Kind gekauft, doch wir können uns keine neuen Sachen leisten. Meiner Meinung nach wird es immer schlechter.“

Diese persönliche Meinung untermauern Wirtschaftsdaten. Nach Angaben der Nationalbank in Belgrad kann fast jede vierte serbische Firma ihre Schulden nicht regelmäßig bedienen, die insgesamt etwa drei Milliarden Euro betragen. Hinzu kommen offiziell etwa 800.000 Arbeitslose; die Bewertung der Mitte-Links-Regierung durch den renommierten Belgrader Wirtschaftsjournalisten Milan Culibrk fällt daher negativ aus:

„Wir haben noch nicht die Wirtschaftsleistung des Jahres 2008 wieder erreicht, das war das letzte Jahr vor der Krise. Offiziell gingen 250.000 Arbeitsplätze verloren, doch wenn man die Schwarzarbeit hinzurechnet sind es sogar etwa 400.000 Arbeitsplätze. In diesem Zeitraum haben wir uns um sechs Milliarden Euro weiter verschuldet. Dieses Geld haben wir verbraucht für Gehälter im öffentlichen Sektor, der noch immer nicht reformiert ist, für Pensionen, doch wir haben mit diesem Geld keine einzige Straße gebaut.“

Die Zeche für versäumte Reformen zahlen die Serben aber nicht nur mit einer schlechten Lebensqualität, sondern auch durch hohe Preise, unterstreicht Milan Culibrk:

„Bei uns sind viele Preise höher als in der Umgebung, weil wir zu wenige große Spieler haben, die um die Käufer kämpfen und daher die Preise senken müssen. Hier haben wir Margen auf einzelne Produkte zwischen 50 und mehr als 100 Prozent. Hier kosten Nike-Sportschuhe drei Mal mehr als in der 5th Avenue in New York, dem teuersten Teil der USA. Diese Regierung hat nicht die Bedingungen geschaffen, um die Konkurrenz zu erhöhen oder Maßnahmen gegen Monopole oder eine marktbeherrschende Stellung zu ergreifen.“

Nicht so negativ bewertet der Wirtschaftsberater der Regierung, Juri Bajec, die Leistungen der Mehrparteienkoalition. Bajec gibt zu bedenken, dass die Regierung bereits knapp nach ihrem Amtsantritt mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise konfrontiert worden sei. Trotzdem fällt auch die positivere Bilanz von Juri Bajec ernüchternd aus:

„Dass die Regierung auch etwas Positives zustande gebracht hat, beweist für mich der Umstand, dass sie die ganzen vier Jahre überlebt hat, trotz einer sehr geringen Mehrheit im Parlament. Am schlechtesten schneidet die Regierung bei der Arbeitslosigkeit ab. Doch was alles andere betrifft, so sind die Ergebnisse erträglich schlecht. So fiel die Wirtschaftsleistung nur im Jahre 2009, dann hatten wir eine Stagnation oder ein geringes Wachstum. Zweitens wurde die Inflation von zehn auf sieben Prozent gesenkt, war daher in einem normalen Ausmaß. “

Das wirtschaftliche Vorzeigeprojekt, die Übernahme des Autobauers Zastava in Kragujevac durch den italienischen Autokonzern FIAT litt ebenfalls unter der weltweiten Krise. Darüber hinaus zeigt auch der FIAT-Einstieg Schwächen in Serbien auf. Autobleche müssen importiert werden, weil das Stahlwerk in Smederevo nicht in entsprechender Qualität produzieren kann. Doch auch bei Suche nach Arbeitskräften gab es Probleme, erzählt Juri Bajec:

„Bei FIAT weiß ich konkret, dass sie keine 40 Arbeiter finden konnten für ganz spezielle Arbeitsprozesse. Ich dachte, dafür werden sich Tausende melden, doch es waren nicht einmal 40. Früher war Serbien stark bei hochqualifizierten Arbeitskräften, die dann ins Ausland abgewandert sind. Gerade die Fachschulen, die spezialisierte Arbeitskräfte ausbilden, das ist eine Schlüsselfrage, denn die gibt es nicht. So musste FIAT in Kragujevac eine besondere Schule gründen, für hochqualifizierte Manager und Ingenieure, für alle Ebenen, um dieses Werk in einen modernen Produktionsprozess eingliedern zu können, wie das FIAT ist.“

Andererseits haben technische Fakultäten einen sehr guten Ruf. Er hat die österreichische Firma Teletrader nach Belgrad geführt. Sie beschäftigt 40 Mitarbeiter, die Software zur Analyse und Darstellung von Finanzdaten entwickeln, die auch Börsenmakler in Frankfurt nutzen. Zum Arbeitskräftepotential sagt Technik-Vorstand Johannes Osrael:

„Das technische Niveau ist sehr, sehr gut. Die Programmierer sind sehr gut ausgebildet. Wir rekrutieren hier sehr viel direkt von der technischen Uni, insbesondere von der Fakultät für Elektrotechnik, da sind wir sehr zufrieden. Wo wir selbst dann schulen ist im Bereich Finanzwissen, Wissen über Finanzdaten. Das ist hier vielleicht nicht so weit verbreitet, weil einfach der Finanzmarkt in Serbien auch noch nicht westlichen Standards entspricht.“

Ein weitere Grund für ausländische Investoren sind die niedrigen Lohnkosten. So sind bei Teletrader in Belgrad die Einstiegsgehälter um zwei Drittel niedriger als in Österreich. Niedrige Löhne hat auch die burgenländische Firma SMF nach Serbien geführt; hinzu kamen schlechte Erfahrungen in anderen Reformländern. In der 8.000 Einwohner zählenden Gemeinde Kovacica in der Vojvodina beschäfigt SMF 30 Mitarbeiter, vorwiegend Frauen in der Kabelkonfektion, eine Handarbeit, die viel Fingerfertigkeit und Genauigkeit erfordert. In Kovacica liegt der Monatslohn bei etwa 200 Euro. Dazu sagt SMF-Geschäftsführer Berthold Felber:

„Mit der Arbeitsstunde kann man im Markt nur konkurrenzfähig sein, wenn man Stundensätze unter zehn Euro anbietet; und Stundensätze unter zehn Euro gehen auf Grund der Lohnstruktur in Österreich überhaupt nicht.“

Doch es gibt noch einen dritten Grund für den Gang nach Serbien, das ist der enorme Nachholbedarf bei der Infrastruktur. So baute jüngst eine österreichische Firme die erste Brücke in Belgrad seit mehr als 30 Jahren. Die serbische Hauptstadt hat noch keine Kläranlage und in der Provinz ist die Lage noch viel schlechter. Anderseits haben Investoren mit Standartproblemen zu kämpfen – Bürokratie, Korruption und lange Verfahrensdauern. Bei seiner Modernisierung steht Serbien jedenfalls vor enormen Herausforderungen. Dazu zählt die Erblast der Ära von Slobodan Milosevic, die der österreichische Handelsdelegierte Andreas Haidenthaler so beschreibt:

„Serbien hatte einmal eine starke Autoindustrie, hatte ein starke Textil- und Elektroindustrie, die hat in den Sanktions- und Milosevic-Jahren stark gelitten. Ganze Industriezweige sind regelrecht implodiert; das soll jetzt wieder aufgebaut werden, und das ist auch der Platz, wo sich österreichische Firmen mit Wissen aber auch als Investoren planen hineinzusetzen.“

Eine weitere Herausforderung nennt der Wirtschaftsjournalist Milan Culibrk:

„Jeder dritte Beschäftigte arbeitet im öffentlichen Sektor, in der Schule, in der Polizei, den Streitkräfte oder öffentlichen Betrieben. Die Masse dieser Löhne ist gleich wie in der Privatwirtschaft. Doch obwohl die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst sichere sind, gibt es hier sogar noch höhere Löhne, und das ist absurd. Ebenfalls absurd ist, dass die öffentlichen Betriebe auch 20 Jahre nach dem Systemwechsel nicht restrukturiert sind. So gibt es Schätzungen, dass jedenfalls jeder Vierte im öffentlichen Sektor zu viel ist. Und das bezahlen die anderen Bürger und die Wirtschaft.“

Die langfristig größte Herausforderung liegt in der Demographie. Auf einen Arbeitnehmer kommt ein Pensionist, und mit einem Durchschnittsalter von 41,4 Jahren hat Serbien die fünftälteste Bevölkerung in Europa. Nach vorläufigen Daten der Volkszählung des Jahres 2011 sank die Bevölkerung binnen zehn Jahren von 7,5 auf unter 7,3 Millionen. Wie dramatisch die Entwicklung ist, erläutert Gordana Bjelobrk vom Statistischen Zentralamt in Belgrad:

„Wir verlieren pro Jahr zwischen 30.000 und 35.000 Einwohner. Seit 2002 haben wir 280.000 Personen nur wegen der negativen Geburtenrate verloren. Evident ist, dass sich bestimmte Teile Serbiens entleeren. So haben wir 4.700 Ortshaften, und in1.100 davon wurde im Jahre 2010 keine einzige Geburt registriert. Jede versuchte Gegenmaßnahme des Staates wirkt nur sehr langsam, weil wir so tief in die Entvölkerung geschlittert sind mit einer Alterung der gesamten Bevölkerung. Wenn aber niemand Kinder bekommt, dann gibt es auch morgen keinen der arbeiten wird.“

Hält der Trend an, dürften in Serbien im Jahre 2050 nur mehr fünf Millionen Einwohner leben. Ob Wirtschaftsaufschwung und EU-Beitritt diese Entwicklung bremsen können ist fraglich. Sicher ist, dass Serbien allein aus wirtschaftlichen Gründen den Weg in die EU gehen muss. Denn das Fehlen eines freien Warenverkehrs ist ein Standortnachteil, den Berthold Felber von der Firma SMF schildert:

„Wir transportieren pro Fahrt ca. 200 bis 400 verschiedene Produkte bestehend aus bis zu 20 Einzelteilen, d.h. wir haben ca. 4.000 Komponenten pro Transport aufzulisten. Der Verzollungsaufwand und der Transportaufwand wenn man jetzt nur die Logistik und die Schreibarbeiten hernimmt, ist verglichen zur Fertigung in Ungarn bei gleichen Produkten ein Faktor eins zu fünf, also was wir nach Ungarn in einer Stunde erledigen benötigen wir für Serbien fünf Stunden.“

Die EU-Annäherung sei aber noch aus weiteren zwei Gründen wichtig, betont der österreichische Handelsdelegierte Andreas Haidenthaler:

„Zum einen wird Serbien durch den Status als EU-Kandidat international und auch von vielen Firmen anders wahrgenommen. Serbien hat noch immer ein gewisses Imageproblem, das von Bildern der Vergangenheit geprägt ist, das wird sich hoffentlich insofern ändern, als man Serbien als einen sich auf Europa hin entwickelnden Staat wahrnehmen wird. Und zweitens ist die EU einfach Zuckerbrot und Peitsche, um Reformen voranzutreiben, die hier innenpolitisch vielleicht schwer durchsetzbar wären.“

Bis zum EU-Beitritt werden wohl noch bis zu zehn Jahre vergehen. Angesichts der Alltagssorgen spielt die EU daher im Leben der Serben keine große Rolle. Und wie denkt die Familie im Ort Simanovci über die EU und die bevorstehenden Wahlen? Dazu sagt Familienvater Bojan:

„Was weiß ich; es wäre gut, dass wir beitreten, glaube ich. Mir ist es egal, wer an der Macht ist. Für mich zählt nur ein normales Leben, dass ich das Auto haben und tanken kann, dass ich mit dem Kind wenigstens am Wochenende in die Stadt fahren kann, weil es hier keine besonderen Aktivitäten gibt. Und – dass ich mir einen Urlaub am Meer leisten kann, weil ich ja aus Montenegro bin. Ich will nur normal leben.“

Und was verstehen Bojan und Jelena unter einem normalen Leben?

„Tausend Euro wären genug, dass wir einigermaßen normal leben könnten. Wenn jeder von uns 500 Euro Lohn hätte, weil wir ja keine Miete zahlen. Dann hätten wir irgendein kleines Auto. Für uns wäre das genug, denn wir hätten noch gerne weitere Kinder.“

Abmod:

Die Vornamen der Familie wurden übrigens auf Wunsch der Familie geändert. Ihr Wunsch nach einem besseren Leben wird wohl noch auf sich warten lassen, denn für heuer rechnen Wirtschaftsexperten mit einer Stagnation in Serbien. Im Gegensatz zu vielen anderen Serben kann die Familie in Simanovci auch nicht auf finanzielle Unterstützung durch Verwandte im Ausland zählen. Dass es in Serbien trotz vielfacher Streiks und Proteste von Arbeitslosen zu keinem sozialen Massenaufstand kam, ist wohl auf die Zahlungen der Auslandsserben zurückzuführen. Sie werden auf jährig drei Milliarden Euro geschätzt, das entspricht mehr als einem Drittel der serbischen Exporte des Vorjahres. Davon profitiert natürlich auch die Regierung. Ihre wirklichen Erfolge sind vor allem politischer Natur. Die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal konnte erfolgreich beendet werden, die Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo wurde begonnen, und schließlich erhielt Serbien den Status eines EU-Beitrittskandidaten, wobei bis zum Beitritt jedoch noch sehr viele Reformen durchzuführen und eine bessere Wirtschaftslage zu erreichen sein wird.

Links:

ILO, Internationale Arbeits-Organisation:

http://www.ilo.org/budapest/what-we-do/publications/WCMS_172434/lang--en/index.htm

Statistisches Zentralamt in Serbien

http://webrzs.stat.gov.rs/WebSite/

Serbische Nationalbank:

http://www.nbs.rs/internet/english/index.html

Serbischer Unternehmerverband:

http://www.poslodavci.org.rs/

Wirtschaftskammer Österreich - Zweigstelle Belgrad:

http://portal.wko.at/wk/kontakt_dst.wk?dstid=593

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