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Interview mit Vladimir Gligorov über die Krise in Serbien und am Balkan

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Berichte Serbien
Die Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA und Europa hat natürlich auch die Länder des Balkan massiv getroffen. Sie sind Transitionsländer, in denen sich nach vielen Jahren des Verfalls und der Krise nun langsame auch eine kleine Mittelschicht zu bilden begonnen hat. Dieser bescheidene Wohlstand ist nun durch die weltweite Krise bedroht. Das gilt natürlich auch für Serbien, das als letztes Land des ehemaligen Jugoslawien mittlerweile bereits vor neun Jahren mit Reformen begonnen hat. In Belgrad hat unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz mit dem Wirtschaftsexperten Vladimir Gligovrov über die Lage in Serbien und der Region gesprochen, hier sein Bericht:

Das ehemalige Jugoslawien und damit auch Serbien wurden von der internationalen Krise nicht direkt, sondern indirekt getroffen. Indirekt deshalb, weil die Finanzkrise erst über die damit in Europa einsetzende Wirtschaftskrise wirklich auf die Region übergriff. Ausländische Direktinvestitionen brachen massiv ein; damit fehlt das Geld, um ein Handelsbilanzdefizit zu finanzieren, das in Serbien mehr als 50 Prozent beträgt. Verschärft haben die Krise rückläufige Steuereinnahmen sowie der Umstand, dass ein Stahlwerk als größter Einzelexporteur des Landes seine Produktion praktisch einstellte. Den Istzustand in Serbien beschreibt Vladimir Gligorov so:

„Ein Export- und Industriesektor besteht praktisch nicht; die öffentlichen Finanzen sind in Auflösung, gegenüber dem Ausland ist das Land praktisch bankrott, es fehlt jede Strategie einer regionalen Entwicklung, obwohl sich die regionalen Unterschiede in Serbien furchtbar vergrößert haben und weiter vergrößern. Auch bei der Infrastruktur wurde nichts getan, obwohl Serbien ein Transitland ist. Was das Humankapital betrifft, so exportiert Serbien Fachkräfte und das wird sich weiter fortsetzen angesichts der Lage. Das einzige was noch einigermaßen funktioniert sind die Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie; das sind Exporte nach Bosnien, Mazedonien und in den Kosovo. Dabei ist der Kosovo als Importland für Serbien genauso wichtig wie Russland.“

Um die Zahlungsfähigkeit zu sichern, schloss Serbien eine Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds in Höhe von drei Milliarden Euro. Direkte Geldspritzen für das Budget soll Belgrad auch aus Brüssel erhalten. Wegen der Krise beschloss Serbien einen Nachtragshaushalt; das Defizit soll von ursprünglich 1,5 nun auf 2,3 Prozent steigen. Selbst dieses Budget wird nur halten, wenn der erwartete Wirtschaftsrückgang von zwei Prozent keine zu optimistische Prognose ist. Beschlossen hat die Regierung natürlich auch ein Krisenpakt: dazu zählt ein Aufnahmestopp für Beamte, eine höhere Besteuerung von Spitzengehältern, höhere Abgaben für Treibstoff und Zigaretten sowie operative Ausgabenkürzungen bei fast allen Ministerien um 40 Prozent. Dieses Paket bewertet Vladimir Gligovor so:

„Das sind erzwungene Maßnahmen; das macht man, wenn man keine Alternativen mehr hat. Zunächst wurden andere Maßnahmen geplant, doch zur Umsetzung war die Regierung entweder nicht fähig oder es fehlte die Unterstützung. Schließlich blieb nur das Sparen bei den öffentlichen Ausgaben; hinzukommen noch einige Subventionen, doch das ist in etwa alles.“

Dafür hat das 7,5 Millionen Einwohner zählende Serbien eine Regierung aus 10 Parteien und 26 Ministerien. Zwar ist Serbiens Kabinett das größte in der Region, doch alle anderen dargestellten Probleme haben zumeist auch alle anderen Balkan-Staaten. Vladimir Gligorovs wenig ermutigende regionale Perspektive lautet daher so:

„Derzeit denkt keines der Länder weiter als an die nächsten sechs Monate; das ist ein großes Problem, weil niemand mittel- oder gar langfristig denkt. Hält der Trend an, ist eine Stagnationsphase von drei bis fünf Jahren möglich. Denn die politische und intellektuelle Unfähigkeit ist groß und die Region ist unvorbereitet. An der Macht sind Personen ohne strategische Vision, und die politischen Eliten sind sehr selbstsüchtig. Zwar herrscht in der Region politisch ein Status quo und es gibt keinen Grund für Konflikte, doch es fehlen regionale Zusammenarbeit und ein gemeinsames Auftreten gegenüber Brüssel.“

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