× Logo Mobil

Serbien vor der Schicksalswahl

Radio
Europajournal
Berichte Serbien
Europajournal 02052008 Serbien vor der Schicksalswahl Wehrschütz Mod

Serbien steht am 11. Mai vor schicksalshaften Parlamentswahlen. Die 6,7 Millionen Wähler werden darüber entscheiden, ob Serbien seien Weg Richtung EU fortsetzt oder einen isolationistischen Anti-EU-Kurs einschlägt. In dieser Frage sind die politischen Eliten und die Bevölkerung tief gespalten, vor allem seit der Kosovo Mitte März mit Hilfe der USA und der Mehrheit der EU-Staaten seine Unabhängigkeit erklärt hat. An der Frage EU oder Kosovo zerbrach im März auch die Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Vojislav Kostunica. Kostunica und sein nationalkonservatives Zweiparteienbündnis sind ebenso wie die nationalistische Radikale Partei und die Milosevic-Sozialisten gegen jede EU-Annäherung solange Brüssel in der Kosovo-Frage nicht einlenkt. Für die EU sind das Vier-Parteien-Bündnis von Präsident Boris Tadic, die kleine Liberale Partei und die nationalen Minderheiten. Welches Lager am 11. Mai gewinnen wird ist derzeit ebenso offen wie die Frage, ob und wie rasch nach der Wahl eine stabile Regierung gebildet werden kann. In Serbien hat unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz den Wahlkampf beobachtet und folgenden Beitrag über die Qual der Wahl in Serbien gestaltet.

Die Parlamentswahl im Jänner 2007, die Präsidentenwahl im Februar dieses Jahres und nun die Parlamentswahl im Mai prägte und prägt in Serbien stets die Grundfrage, ob das Nein zur Unabhängigkeit des Kosovo und das Ja zur EU-Annäherung miteinander vereinbar sind. Diese Frage spaltete die Parteien umso mehr, je weiter beide Prozesse fortschritten. Mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und seiner Anerkennung durch die Mehrheit der EU-Staaten war der Zielkonflikt im sogenannten demokratischen Lager nicht mehr zu überbrücken. die Regierung zerbrach:

„Nach der vergangenen Parlamentswahl bildete sich eine Regierung, die in Wirklichkeit aus zwei getrennten Teilen bestand. Einer war isolationistisch, der andere pro-europäisch. Das war ein unhaltbarer Zustand, und daher muss jetzt entschieden werden, welches der beiden Serbien seine Politik umsetzt und wer in Opposition geht. Der Kampf ist sehr schwer und sein Ausgang sehr ungewiss.“

… erläutert Nenad Canak, der eine kleine pro-europäische Partei in der Provinz Vojvodina führt. Gerade weil der Ausgang der Wahl am 11. Mai so offen ist, führen beide Lage den Wahlkampf auch mit enormem Einsatz:

„Ein Dutzend der größten Firmen der Welt steht vor den Toren Serbiens und fragen sich, was wird am 11. Mai sein. Wenn das europäische Serbien gewinnt, wollen sie eine Milliarden Euro investieren und 26.000 Menschen in großen Firmen beschäftigen, wie da sind: IBM, Intel aber auch Volkswagen. Wollen wir diese Chancen vergeben?“

… wirbt Mladjan Dinkic, der Vorsitzende der Wirtschaftspartei G17-Plus für den EU-Kurs. Dinkic und Canak gehören einer Vier-Parteien-Koalition an; sie führt Präsident Boris Tadic mit seiner stärksten pro-westliche Kraft, der Demokratischen Partei; ihr stellvertretender Vorsitzender, Dragan Sutanovac, sieht die Ausgangslage so:

„Serbien steht am Scheideweg; es geht nicht darum, ob wir schneller oder langsamer in Richtung EU gehen, sondern darum, ob wir der EU überhaupt beitreten werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Serben für die europäischen Werte ist; dabei denke ich vor allem an einen besseren Lebensstandard, an eine bessere Wirtschaft, an ein besseres Gesundheits- und Bildungswesen; eben an all das, was die Vorteile der EU sind.“

Das sind gute Argumente; das weiß auch das nationalistische und das nationalkonservative Lager, für das das Nein zur Unabhängigkeit des Kosovo Priorität genießt. Zur EU heißt es daher:

„Unser zweites großes Ziel ist, dass Serbien Teil der EU wird. Doch sofort müssen wir jeden Zweifel beseitigen. Serbien ist in Europa und war das auch immer. Wir waren durch die Jahrhunderte sogar einer der Verteidiger Europas und der europäischen Werte. Wir wollen aber der EU beitreten wie alle anderen Länder, das heißt vollständig und nicht nur zum Teil.“

… formuliert Ministerpräsident Vojislav Kostunica seine Bedingung an Brüssel. In dieselbe Kerbe schlägt Tomislav Nikolic:

„Wir sagen der EU: wir wollen Mitglied werden, aber so wie Serbien jetzt ist, niemals um nur einen Fußbreit weniger oder mehr.“

Nikolic führt die nationalistische, oppositionelle Radikale Partei, die stärkste Kraft in Serbien; Kostunica wiederum führt ein nationalkonservatives Zwei-Parteien-Bündnis, das der Koalitionspartner der proeuropäischen Kräfte in der Regierung war. Beide Lager weisen in ihrer Argumentation im Wahlkampf Schwächen auf:

„Die nationalkonservative Koalition will, dass die EU-Integration in gewisser Weise ausgesetzt wird, solange sich die Haltung der EU zum Kosovo und zur staatlichen Identität Serbiens nicht ändert. Das ist eine äußerst passive und defensive Position, denn die Mehrheit der Staaten der EU hat sich darauf festgelegt, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. Wenn man die EU-Annäherung daher aussetzt besteht das Risiko, dass man schließlich ohne EU-Integration und ohne Kosovo dasteht.“

… betont der Belgrader Politologe Zoran Stoiljkovic; das Manko der pro-westlichen Kräfte sieht Stoiljkovic so:

„Das, was sehr schlecht für die Position vor allem der Demokratischen Partei ist, ist folgende Argumentation: Ihr seid im Jahre 2000 mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft an die Macht gekommen; ihr habt gesagt, dass ihr besser als Milosevic die nationalen Interessen schützen könnt, und jetzt, sieben Jahre später, wird euch der Kosovo weggenommen.“

Dieses Problem erkannte auch Brüssel. Auf Drängen der prowestlichen Kräfte unterzeichnete daher die EU mit Serbien am Dienstag, einen Vertrag über die EU-Annäherung; er tritt jedoch erst in Kraft, wenn Belgrad völlig mit dem Haager Tribunal zusammenarbeitet. Hinzu kommt, dass Nationalisten und Nationalkonservative die Unterzeichnung des Vertrages durch einen pro-europäischen serbischen Politiker als nationalen Verrat betrachten. Ob und in welchem Ausmaß dieser Vertrag den pro-europäischen Kräften in der Schlussphase des Wahlkampfes nützt, ist umstritten. Erschwert wird die Beurteilung der Siegeschancen durch den Umstand, dass auch die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage im Wahlkampf eine Rolle spielt. Diese Probleme und die Öffnung gegenüber der EU thematisiert vor allem der Nationalist Tomislav Nikolic:

„Sie wollten unsere Fabriken, sie bekamen sie, einige sogar um nur einen Euro. Sie bekamen unsere Felder, Wasser und Luft, unsere Politiker, die sie um wenig Geld gekauft haben. Sie bekamen, was sie wollten, und ihr seid die Verlierer der Transition. Doch ehrlich gesagt, ihr seit die Armen. Dieses Wort Transitionsverlierer lässt sich schwer übersetzen; ich verwende es nicht, doch es verwenden jene, die verstecken wollen, was eigentlich mit uns Serben geschehen ist.“

Ob der Wunsch nach einer Wende und der Zorn über den Verlust des Kosovo oder der Wunsch nach einem klaren EU-Kurs beim Wähler überwiegen, wird über Niederlage und Sieg entscheiden. Nach Umfragen liegen Nikolic sowie Präsident Tadic und seine pro-europäische Koalition bei je etwa 35 Prozent. Rang drei belegt das nationalkonservative Zwei-Parteien-Bündnis von Vojislav Kostunica. Den Einzug ins Parlament schaffen dürften noch die kompromisslos pro-westlichen Liberalen und die Milosevic-Sozialisten. Mit zehn der zu vergebenden 250 Mandate können nationale Minderheiten rechnen, die ebenfalls pro-westlich sind. Ausgeschlossen ist eine Koalition zwischen Nikolic und Tadic sowie zwischen Nikolic und den Liberalen. Ebenso sicher ist, dass zwischen allen potentiellen Partnern große persönliche und politische Gegensätze bestehen:

„Wer auch immer gewinnt, wird die Regierung erst nach langen Verhandlungen bilden können. Und diese Regierung wird nicht stabil sein, denn das ist auch nach diesen Wahlen nicht zu erwarten. Möglich sind alle Formen, auch eine Minderheitsregierung mit Unterstützung der einen oder anderen Partei.“

… erläutert der Politologe Zoran Stoiljkovic. Kommt es in den letzten Tagen der Kampagne nicht zu einer dramatischen Wende, könnte somit auch nach der Wahl der Zielkonflikt EU versus Kosovo offen bleiben. Die endgültige Stabilisierung Serbiens und des Balkan ließen dann weiter auf sich warten.

Facebook Facebook