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Der Seselj-Faktor im serbischen Wahlkampf

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Berichte Serbien
Vor dem Kriegsverbrecher Tribunal in Den Haag soll Ende November der Prozess gegen Vojsilav Seselj beginnen. Dem Vorsitzenden der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei wird vorgeworfen, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzung des Kriegsvölkerrechts in Kroatien und in Bosnien verantwortlich zu sein. Seselj hat sich sofort nach der Veröffentlichung der Anklageschrift Ende Februar 2003 freiwillig dem Tribunal gestellt. Ob der Prozess nun endlich beginnen kann ist trotzdem unklar; denn Seselj ist seit einer Woche im Hungerstreik, weil er mit der Behandlung durch das Tribunal unzufrieden ist. Diese Aktion hängt mit der Lage in Serbien zusammen, wo Ende Jänner vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden. In Belgrad hat sich unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz mit dem Fall Vojislav Seselj befasst, hier sein Bericht:

Für den 1954 in Sarajevo geborenen Vojislav Seselj sind Gefängniszellen ein wichtiger Teil des politischen Lebens. So wurde der serbische Nationalist 1984, in der Zeit des kommunistischen Jugoslawien, wegen kontrarevolutionärer Aktivitäten zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Abgesessen hat Seselj knapp zwei Jahre, denn auch viele Staaten des Westens intervenierten zu seinen Gunsten. Nach der Haft übersiedelte Seselj nach Belgrad, wo er am 23. Februar 1991 die Serbische Radikale Partei gründete. 12 Jahre später, praktisch auf den Tag genau, stellte sich Seselj freiwillig dem Haager Tribunal. Ihm wird vorgeworfen, durch seinen Kampf für ein Großserbien für Verbrechen in Kroatien und Bosnien mit verantwortlich zu sein. Die Liste der Anklagepunkte hat das Tribunal Anfang November nicht unwesentlich reduziert. Doch vor allem der Umstand, dass prominente albanische Angeklagte in Freiheit auf den Prozeßbeginn warten dürfen, während Seselj seit fast vier Jahren in U-Haft sitzt, schadet dem Tribunal sehr. Das erläutert der Politologe Djordje Vukadinovic so:

„Seselj ist ein Symbol des Gepeinigten und der Ungerechtigkeit, die das Haager Tribunal vor allem den Serben bringt; das empfindet ein großer Teil der Bürger so. Fraglich ist, ob dieser Fall das größte Eigentor des Haager Tribunals war; es gibt eine Serie von Eigentoren, die zum niedrigen Ansehen geführt haben, das das Tribunal in Serbien hat. Das drastischste Beispiel war der Tod von Slobodan Milosevic und ein großer Teil seines Verfahrens. Paradoxerweise war Milosevic in Haag populärer als während des größten Teils seiner Amtszeit in Serbien.“

Doch diese Popularität wirkte sich nicht auf die Milosevic-Sozialisten aus, obwohl die TV-Übertragung des Prozesses zunächst ein Straßenfeger war. Fraglich ist daher, ob und wie sich ein allfälliger Prozessbeginn gegen Vojislav Seselj während des Wahlkampfes auf seine Partei auswirken wird. Denn vor dem Tribunal wird auch Seseljs ausgeprägter Verbalradikalismus zur Sprache kommen. Dazu sagt der Meinungsforscher Srdjan Bogosavljevic:

21’20

„Die Hälfte der Wähler der Radikalen sind Stammwähler und für sie ist sehr wichtig, was Seselj sagt. Auch die andere Hälfte hat von Seselj eine positive Meinung, doch diese andere Hälfte fürchtet sich vor neuen Kriegen und Konflikten und steht daher Seseljs Verbalradikalismus viel kritischer gegenüber, ja fürchtet sich sogar davor.“

Für diese These spricht auch, dass die Radikalen erst nach Seseljs Abgang nach den Haag zur stärksten Partei in Serbien aufsteigen konnten. Denn als Ikone war Seselj sehr nützlich, doch in Serbien mäßigte sein Stellvertreter Tomislav Nikolic die Sprache der Partei und konnte mit seinen sozialen Parolen vor allem bei vielen Armen punkten. Doch Seseljs Einfluss auf die Parteiführung ist nach wie vor sehr groß. Seit Beginn seines Hungerstreiks in Den Haag befassen sich die Radikalen nur mehr mit dem Schicksal ihres Vorsitzenden. Hält dieser Trend an, könnte das jene verärgern, die die Radikalen vor allem als soziale Protestpartei wählen. Hinzu kommt, dass Seselj durch seine jahrelange Abwesenheit offensichtlich den Bezug zur Realität in Serbien verliert und so die Umwandlung der Ultranationalisten zu einer moderateren Partei erschwert.

So wurde auf Seseljs Befehl jüngst beim Parteitag in Belgrad die gemäßigte Bürgermeisterin von Novi Sad, Maja Gojkovic, entmachtet. Gerüchte in Belgrad besagen daher, dass es so manche führende Radikale gar nicht ungern sehen, wenn das Tribunal dem aufsässigen Seselj wieder ein Mal die Erlaubnis zum Telefonieren entzieht, weil er sich dann einige Zeit nicht in die Politik seiner Partei einmischen kann, die ohne ihren Vorsitzenden weit bessere Wahlchancen hat als mit ihm.

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