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Serbien vor der Parlamentswahl

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Berichte Serbien
In Serbien wird am 28. Dezember das Parlament neu gewählt. Die Wahl findet ein Jahr früher als geplant statt, weil die Regierung die Mehrheit im Parlament verloren hat. Mehr als 15 Parteien und Listen treten an, doch nur fünf von ihnen haben die sichere Chance, die bestehende Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen. Umfragen zeigen darüber hinaus, dass es zu tiefgreifenden politischen Veränderungen kommen dürfte. Die ultranationalistische Radikale Partei könnte stärkste Kraft im Parlament werden. Um diesen Platz kämpft mit den Radikalen höchstens die DSS, die Partei des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica. Auch Kostunica ist schon lange kein Liebkind des Westens mehr. Doch ohne ihn wird eine Regierungsbildung in Serbien nur schwer möglich sein, denn die beiden erklärten Reformparteien, die DS und G17plus, werden im Parlament über keine eine Mehrheit verfügen. Was hat zu dieser tiefgreifenden politischen Wende nach nur drei Jahren geführt, die sich für die kommenden Wahlen abzeichnet ? Unser Balkankorrespondent Christian Wehrschütz ist dieser Frage nachgegangen. Er hat mit Spitzenpolitikern und Meinungsforschern gesprochen und einen Bericht über Serbien vor der Wende gestaltet:

Zu den Privilegien einer Regierung zählt es, den Wahltermin bestimmen zu können. Die führende Koalitionsspartei, die DS, die Demokratische Partei des ermordeten Ministerpräsidenten Zoran Djindjic, hat dieses Privileg nicht zu nutzen vermocht. Von Korruptionsaffären und Flügelkämpfe erschüttert und getrieben durch den drohenden Verlust der Mehrheit im Parlament, wählte sie den 28. Dezember als Wahltermin.

Doch der DS bläst der Wind ins Gesicht. Viele reformorientierte Wähler sind von den vielen Affären und den Grabenkämpfen zwischen den Reformparteien enttäuscht. Die Stimmung der Bevölkerung ist sehr schlecht, schlechter als die zweifellos schwierige Realität, wie der Meinungsforscher Srdjan Bogosavljevic betont:

„Eine Reihe von Erfolgen haben nur dazu geführt, dass Serbien ein normales Land ist. Der Dinar ist derzeit stabil, es gibt Strom, vor zweieinhalb Jahren war das nicht so. Benzin gab es auch nicht, es wurde am Schwarzmarkt gekauft. Die Straßen sind voll von Autos, früher waren sie leer. Pensionen werden regelmäßig bezahlt, früher kamen sie acht Monate später. Doch die Regierung konnte nichts als Erfolg verkaufen, was man Rückkehr zur Normalität nennt.“

Hinzu kommen unrealistische Erwartungen und ein enormes Warenangebot. Dazu sagt Srdjan Bogosavljevic:

„Als der Lohn in Serbien durchschnittlich 50 Euro betrug, war in den Geschäften nichts zufinden. Dass der Kühlschrank älter als 18 Jahre, das Auto älter als 14 Jahre waren und das letzte Mal vor mehr als 10 Jahren ausgemalt wurde, störte niemanden, weil nichts dagegen zu machen war. Doch heute sind die Geschäfte voll und man kann sich mit einem fünf Mal höheren Gehalt einen neuen Kühlschrank aber kein neues Auto kaufen. Die Menschen sind mit einem Angebot konfrontiert, das die Kaufkraft weit übersteigt. Zweitens vergleichen sich die Menschen nicht mit sich selbst, sondern mit ihren Erwartungen. Diese sind höher und daher sind Unzufriedenheit und Pessimismus außerordentlich gewachsen.“

Angesichts dieser negativen Grundstimmen führen praktisch alle Parteien einen Wahlkampf gegen die DS als stärkste Partei der bisherigen Regierungskoalition.

Daher ist es fraglich, in welchem Ausmaß ihr neuer Listenführer, der unverbraucht wirkende Verteidigungsminister Boris Tadic, reformorientierte Wähler für seine Partei mobilisieren kann. Denn die DS und die zweite Reformpartei G17Plus haben das selbe Wählerpotential, das etwa 1,3 Millionen der insgesamt sechs Millionen Wähler umfasst. Geschmälert wird dieses Potential durch den Wahltermin drei Tage vor Silvester. Dazu sagt der Meinungsforscher Srbobran Brankovic:

„Das ist noch einer der sehr falschen Entscheidungen der Regierung. Denn für die Reformkräfte stimmten bisher mehrheitlich Personen, die materiell etwas besser gestellt waren und dem urbanen Teil der Bevölkerung angehören. Diese Personen werden zum Jahreswechsel wahrscheinlich wegfahren. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass einige Zehntausend Personen ihren Wohnsitz verlassen. Gleichzeitig kommen Personen aus der Diaspora, vor allem aus Kontinentaleuropa. Sie sind eher geneigt, für Vojislav Kostunica oder die Radikalen zu stimmen.“

Die DS und G17Plus kämpfen daher nach allen Umfragen darum, wer drittstärkste Kraft im Parlament wird. Dagegen ringt die DSS, die Partei des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica, mit der ultranationalistischen Radikalen Partei um den ersten und zweiten Platz. DSS und Radikale verfügen jeweils über ein Wählerpotential von etwa 1,5 Millionen Stimmen. Die Radikalen müssen ihr Potential jedoch nur mit zwei Parteien des ehemaligen Regimes teilen. Sie profitieren auch von der Schwäche der Sozialisten von Slobodan Milosevic, die um den Einzug ins Parlament kämpfen müssen. Außerdem profitieren die Radikalen vom Fehlen einer echten Arbeiterpartei, wie die Sozialwissenschafterin Ljiljana Bacevic erläutert:

„Die Radikalen haben ein politisch links angesiedeltes Ziel, den Schutz der Schwachen, der Armen und der Schlecht-Ausgebildeten, das sind jene Menschen, die unausweichlich die größten Opfer aller Transitionsprozesse in allen Reformstaaten sind. Anderseits sind die sozialdemokratischen Parteien, von denen es etwa 15 gibt, Parteien, die außer dem Namen nichts Sozialdemokratisches an sich haben.“

Vojislav Kostunica hat dagegen weit mehr Mitbewerber. Dazu zählen Monarchisten unter Vuk Draskovic sowie eine Koalition nationaler Minderheiten und mehrere Klein- und Splitterparteien. Doch zum Teil überschneiden sich auch die Wählerschichten, die Kostunica und die Radikalen ansprechen. Daher sagt Vojislav Kostunica:

„Die Demokratische Partei Serbiens als Partei des rechten Zentrums und ich selbst können ein Damm gegen linke und rechte Extreme sein. Doch ich selbst versuche mich in jüngster Zeit in der Politik positiv und nicht negativ zu definieren. Meine Aufgabe ist es, einen wirklichen Rechtsstaat in Serbien zu schaffen. Dabei war die noch amtierende Regierung größter Gegner und größtes Hindernis im politischen Leben.“

Um diesen Damm zu brechen haben die Ultranationalisten ihre radikale Sprache gezügelt. Mit ihrem Motto „Europa ja – NATO nein“ soll außerdem eine Öffnung Richtung EU signalisiert werden. Die Strategie der Radikalen beschreibt der Meinungsforscher Srdjan Bogisavljevic so:

„Ein wenig Nationalismus, ein wenig gegen die Regierung, beides ist willkommen und dann muss man die Menschen nur noch überzeugen, dass man nicht für den Krieg, sondern für Europa ist. Alles was das Volk will, bieten sie an.“

Trotzdem dürfte es nicht zur Regierungsbildung reichen, denn keine andere größere Partei ist zur Koalition mit den Radikalen bereit. Welche Regierung tatsächlich zustande kommen wird, hängt vor allem vom Wahlausgang ab, der derzeit kaum vorherzusagen ist. Die Zahl der Unentschlossenen ist noch sehr hoch und drei bis vier Parteien liegen an der Fünf-Prozent Hürde. Unklar ist auch, wie viele Stimmen durch das Scheitern von Splitterparteien verloren gehen und wer davon profitieren wird. Unwahrscheinlich ist jedenfalls eine Koalition zwischen DSS und DS, denn der Gegensatz zwischen Vojislav Kostunica und Zoran Djindjic hat dessen Tod überdauert. Wahrscheinlicher ist eine Koalition zwischen DSS und G17Plus unter Einschluß von ein oder zwei kleinen Parteien, sollten diese ins Parlament kommen. Zu den Aufgaben der neuen Regierung sagt der Vorsitzende von G17Plus, Miroljub Labus:

„Kurzfristig betrachtet ist das Land in einer Rezession, man muss daher rasch Maßnahmen setzen, um aus der Rezession herauszukommen. Das sind vor allem steuerliche Maßnahmen verbunden mit einer Steuersenkung und einer anderen Verwendung des Budgets. Langfristig sind es die Arbeitslosigkeit und die alten Wirtschaftsstrukturen. Der Staat muss ein Klima für Investitionen schaffen, damit sich neue Unternehmen bilden, neue Technologien eingesetzt werden und neue Partner gefunden werden., damit die Wirtschaft in die Lage kommt, mit den Volkswirtschaften in der Region konkurrieren zu können.“

Doch nicht nur wegen der wirtschaftlich schwierigen Lage wird die künftige Regierung unter enormem Zeitdruck stehen, wie Miroljub Labus betont:

„Ersten muss die Regierung reorganisiert und die Zuständigkeit der Ministerien geändert werden. Zweitens muss das neue Budget angenommen werden, das die neue Wirtschaftspolitik der Regierung widerspiegeln muss. Drittens sind die neue Verfassung und eine ganze Reihe von Gesetzen zu beschließen. Dazu zählen das Unvereinbarkeitsgesetz aber auch die Einführung der Mehrwertsteuer.“

Hinzu kommt, dass die serbischen Vertreter in Parlament und Regierung des Staatenbundes mit Montenegro den neuen Machtverhältnissen entsprechend zu besetzen sind. Außerdem muß endlich ein serbischer Präsident gewählt werden und auch landesweite Lokalwahlen stehen 2004 ins Haus. All diese Aufgaben kann nur eine stabile Regierung bewältigen. Kommt sie zustande und ist sie erfolgreich, werden die Ultranationalisten weiter in der Opposition bleiben. Sicher ist derzeit nur zweierlei. Erstens wird die Wahl das politische System Serbiens tiefgreifend verändern und zur Herausbildung eines klareren Parteienspektrums beitragen. Staat bisher 28 Parteien werden im Parlament nur mehr bis zu zehn Parteien vertreten sein. Zweitens ist die Parlamentswahl Ende Dezember die letzte Chance der Reformkräfte, den Weg eigenständig und zügig Richtung Europa fortzusetzen, ein Weg, der mit dem Sturz von Slobodan Milosevic vor drei Jahren eingeschlagen wurde.

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