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Kostunica – Djindjic

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Berichte Serbien
In Serbien steht der Bevölkerung politisch ein heißer Herbst bevor. Am 29. September wird der Präsident dieser jugoslawischen Teilrepublik neu gewählt. Der bisherige Amtsinhaber Milan Milutinovic wird nicht mehr kandidieren. Statt dessen wird er wohl noch in diesem Jahr in eine Zelle des Haager Kriegsverbrecher Tribunals übersiedeln müssen. Milutinovic ist ein Gefolgsmann von Slobodan Milosevic und ist vom Tribunal ebenfalls der Kriegsverbrechen angeklagt. Um seine Nachfolge werden sich etwa 10 Kandidaten bewerben. Der Stichtag für die Kandidatur ist der 8. September. Bis dahin hat auch der jugoslawische Präsident Vojislav Kostunica Zeit, sich zu entscheiden, doch gilt seine Kandidatur derzeit als wahrscheinlich. Tritt er an, wird sein Machtkampf mit dem serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic auch den Wahlkampf prägen. Denn Djindjic unterstützt den derzeitigen stellvertretenden jugoslawischen Regierungschef Miroljub Labus, der seine Kandidatur bereits bekannt gegeben hat. Labus ist im Gegensatz zu Kostunica ein erklärter Reformer. Doch noch ehe die heiße Phase des Wahlkampfes überhaupt begonnen hat, hat der Machtkampf in Belgrad bereits zur schwersten Krise in Serbien seit dem Sturz von Slobodan Milosevic geführt. Dieser Machtkampf ist auch der Grund, warum die Bevölkerung zunehmend das Vertrauen in die politische Führung verliert. Gleichzeitig plagen die Serben jedoch andere Sorgen. Das Gefühl einer allgemeinen Unsicherheit und die Angst vor Arbeitslosigkeit sind hoch, denn noch haben die Reformen nicht zu einer wirklich spürbaren Verbesserung des Lebensstandards geführt.

Berichtsinsert: Christian Wehrschütz aus Belgrad

Insert1: Andjel Tintor, Trafikant

Insert2: Biljana Tintor, Trafikantin

Insert3: Vojislav Kostunica, Präsident Jugoslawiens

Insert4: Zoran Djindjic, Ministerpräsident Serbiens

Insert5: Srdjan Bogosavljevic, Meinungsforscher

Gesamtlänge: 8’27

Text:

Tagtäglich um fünf Uhr früh beginnt der Arbeitstag des 55-jährigen Andjel Tintor. Gemein-sam mit seiner 24-jährigen Tochter Biljana betreibt er diesen Kiosk. Bei einer Arbeitszeit von 15 Stunden bleiben dem Trafikanten im Monat etwa 800 Euro, von denen er jedoch noch Steuern, Abgaben und die Pacht für den Kiosk bezahlen muß. Das Ende der Ära Milosevic bedauert Andjel Tintor nicht; am besten sei es ihm ohnehin unter Jozip Bros Tito gegangen:

Andjel Tintor, Trafikant

„Einst habe ich täglich 1200 Exemplare der Zeitung „Politika“, 400 Magazine, 400 Illustrierte verkauft, heute wird täglich im ganzen Bezirk nicht so viel verkauft.“

Tochter Biljana arbeitet im Kiosk bis zu Mittag; dann kümmert sie sich um ihre dreijährige Tochter. Ebenso wir ihr Vater ist die 24-jährige der Ansicht, daß sich ihr Leben seit dem Sturz von Slobodan Milosevic am 5. Oktober 2000 nicht grundsätzlich verändert hat:

Biljana Tintor, Trafikantin

„Daß einzige was sich seit dem 5. Oktober geändert hat ist, daß die Menschen entspannter sind; sie lachen, man kann mit ihnen reden, sie haben keine Angst mehr. Das ist alles was sich zwischenmenschlich geändert hat, doch Geld haben wir noch immer keines. Noch immer ist die Kaufkraft schrecklich gering.“

Die allgemeine Unsicherheit und die Angst vor der Arbeitslosigkeit sind daher die Haupt-sorgen der Serben. Denn die Modernisierung wird viele Opfer kosten. Dieses Stahlwerk hat 1,7 Milliarden US-Dollar Schulden; viele der 8.800 Mitarbeiter fürchten, daß sie mit der für heuer geplanten Privatisierung ihren Arbeitsplatz verlieren werden.

Euphorie, Aufbruchsstimmung und Optimismus, die nach der unblutigen Revolution herrschten sind verflogen. Dazu beigetragen hat auch die Spaltung der Reformallianz DOS. Das Zweckbündnis gegen Slobodan Milosevic zwischen dem jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica und Zoran Djindjic, dem serbischen Ministerpräsidenten, ist zerbrochen. Djindjic ließ Kostunicas Partei DSS aus der gemeinsamen Allianz DOS ausschließen. Im Parlament lieferte das der DOS-Mehrheit im Geschäftsordnungsausschuß die Handhabe, fragwürdige Bestimmungen des serbischen Wahlgesetzes anzuwenden und der DSS alle 45 Mandate zu entziehen. Das hätte bedeutet, daß fast ein Fünftel aller Abgeordneten ausge-wechselt und durch DOS-Politiker ersetzt werden sollten und Djindjic wieder über eine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt hätte. Zwar wurde der Beschluß des Ausschusses im Parlament auch wegen massivem Druck des Westens bisher nicht umgesetzt, doch zu einem Kompromiß zwischen Kostunica und Djindjic ist es bisher nicht gekommen. Der Konflikt zwischen beiden Politikern hat persönliche und politische Gründe. So wirft Kostunica Djindjic vor, nur über Reformen zu reden statt zu reformieren und zu sehr auf den Westen zu setzen:

Vojislav Kostunica, Präsident Jugoslawiens

„Wir müssen uns viel stärker fragen, was wir selbst tun können. Das gilt für Gesetzesrefor-men wie für kleine Reformen in Wirtschaft und Landwirtschaft. Wir müssen uns viel stärker auf die eigenen Kräfte stützen und weit weniger von der Außenwelt abhängig sein. Denn die Hilfe, die wir bekommen, so wichtig sie auch sein mag, ist materiell nicht ausreichend.“

Djindjic wiederum wirft Kostunica vor, zu wenig kompromißlos und zu langsam vorzugehen:

Zoran Djindjic, Serbischer Ministerpräsident

Diese Karrikatur symbolisiert den Unterschied zwischen beiden. Kostunica kniet vor dem serbischen Patriarchen Palve, während Djindjic vor einem Bild von Bill Gates kniet. Djindjic hat den Gründer von Microsoft in den USA besucht und den Konzern nach Serbien geholt. Er will sein Land so rasch wie möglich nach Europa führen. Kostunica setzt stärker auf traditio-nelle Werte, seine Beziehungen zum Westen sind weit weniger eng. Für die Erneuerung der serbischen Infrastruktur und die Reformen insgesamt, kann der Ausgang des Machtkampfes gravierende Folgen haben. Wer, wenn nicht der Westen und westliche Firmen, können die Reformen finanzieren, die Serbien und damit den ganzen Balkan stabilisieren sollen.

Diese Stabilisierung hätte ein Sieg von Miroljub Labus bei der serbischen Präsidentenwahl erleichtern können. Labus, nach wie vor stellvertretender jugoslawischer Ministerpräsident, wurde im ersten Wahlgang von der Demokratischen Partei von Zoran Djindjic unter-stützt. Labus ist erklärter Reformer; er versuchte die Serben für eine Fortsetzung der Reformen zu bewegen, die allein eine rasche Besserung der Lebensbedingungen und eine Annäherung an die EU ermöglichen könnten. Doch Vojislav Kostunica und alle anderen Gegenkandidaten griffen die Regierung Djindjic scharf an und machten die Wahl zu einer Abstimmung über die Regierung. Kostunica lag nach der ersten Runde knapp voran, siegte im zweiten Wahlgang klar, scheiterte jedoch, weil das gesetzliche Quorum von mehr als 50 Prozent aller Wahlberechtigten verfehlt wurde. Zwar änderte das serbische Parlament diese Bestimmung, doch für die Gültigkeit des ersten Durchgangs der Präsidentenwahl ist dieses Quorum nach wie vor erforderlich. Daher ist es auch fraglich, ob die erste Runde der Wiederholungswahl erfolgreich sein wird, die für den achten Dezember angesetzt ist. Der Machtkampf zwischen Kostunica und Djindjic wird somit weitergehen. Vertan ist jedenfalls die Chance, die ein Sieg von Miroljub Labus bedeutet hätte und die der Meinungsforscher Srdjan Bogosavljevic so beschreibt:

„Das Verblassen nationalistischer Ideen wird sicher viel stärker sein, wenn eine klar reform-orientierte Kraft an die Macht kommt. Zwar man kann nicht sagen, daß Kostunica ein Nationalist im negativen Sinne ist, doch auf jeden Fall wird er auch von dieser Gruppe unter-stützt. Daher wäre eine Festigung seiner Macht für diese Nationalisten eine Art Erfolg.“

So wittern Nationalisten wie Vojislav Seselj Morgenluft. Seselj erreichte im ersten Durchgang der Präsidentenwahl mehr als 20 Prozent. Er profitiert vom Machtkampf zwischen Djindjic und Kostunica und den sozialen Problemen, die die Reformen mit sich bringen.

Politische Symbole dieser Nationalisten sind Radovan Karadjic und Ratko Mladic Die beiden flüchtigen bosnischen Serben sind vom Haager Tribunal wegen Kriegsverbrechen angeklagt, jedoch in Serbien noch immer populär. Deren Devotionalien werden vor allem bei Kundge-bungen nationalistische Parteien verkauft, die versuchen deren Popularität für sich zu nutzen. Das Wählerpotential dieser Parteien wird auf 20 Prozent geschätzt. Slobodan Milosevic ist dagegen bedeutungslos und unpopulär. Ebenso unpopulär ist zwar auch das Haager Tribunal, doch akzeptieren die Serbien die Zusammenarbeit mit ihm als Voraussetzung für die Rück-kehr nach Europa.

Verbunden wird damit auch der Wunsch nach Reisen ins Ausland. Doch die Masse der Serben verbringt ihren Urlaub in Serbien, etwa an der Ada Ciganlja, dem Belgrader Pendant zur Donauinsel. Das Ausland, selbst Montenegro, ist für viele zu teuer; doch noch ist die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht erschöpft und die Erkenntnis vorherrschend, daß nichts über Nacht verändert werden kann. Dieser Pragmatismus hat bisher eine Radikalisierung verhindert, obwohl der Machtkampf das Vertrauen in die Regierung schwinden läßt. Gleichzeitig wächst die Ungeduld, schließlich soll ein Drittel der Serben das letzte Mal vor 10 Jahren am Meer gewesen sein. Das ergab jedenfalls eine Umfrage des Magazins NIN, dessen Schlagzeile „Unerreichbarer Traum“ lautet.

Diesen Traum hat auch Andjel Tintor; sein bisher letzter Urlaub liegt vier Jahre zurück, denn eine Urlaubsvertretung ist teuer. Auch am Samstag arbeitet er bis 20 Uhr, ehe er seine Trafik schließt. Tintor will in zehn Jahren, mit 65, in Pension gehen. Der Trafikant hofft auf einen besseren Lebensabend und auch ein neueres Auto, denn sein Wagen ist bereits 14 Jahre alt. Wird der Reformkurs beibehalten, müßte Serbien insgesamt binnen zehn Jahren die dunkle Zeit des vergangenen Jahrzehnts überwunden haben.

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