× Logo Mobil

Serbien, der Kosovo und Europa

Fernsehen
Kulturzeit
Berichte Serbien
Von den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien hat bisher nur Slowenien den Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO erreicht. Alle anderen Staaten befinden sich in unterschiedlichen Phasen auf dem Weg zur sogenannten euroatlantischen Integration. Unbestritten ist jedoch in den politischen Eliten all dieser Länder das Ziel der Mitgliedschaft. Die einzige Ausnahme bildet Serbien. Grund dafür ist vor allem der albanisch dominierte Kosovo, der Mitte Februar seine Unabhängigkeit erklärte, die von den USA und der Mehrheit der EU-Staaten anerkannt wurde. Die Kosovo-Krise führte bereits zur Abkehr von der NATO, die 1999 ihren bisher einzigen Krieg gegen Serbien um den Kosovo führte. Neutralität statt NATO heißt nun die Maxime, doch auch die rasche EU-Annäherung ist mehr und mehr in Frage gestellt. Die EU polarisiert die politische Elite, und Regierung und Parlament sind tief gespalten. Während in der Regierung die EU-Befürworter von Staatspräsident Boris Tadic die Mehrheit stellen, kann sich der nationalkonservative Regierungschef Vojislav Kostunica auf die Nationalisten unter Tomislav Nikolic stützen die stärkste Kraft im Parlament sind. Nikolic und Kostunica eint das Nein zur EU, weil Brüssel die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt hat. Die Folgeder Pattstellung ist eine tiefe politische Krise, die auch die Reformen lähmt. In Belgrad hat Christian Wehrschütz mit Intellektuellen über das schwierige Verhältnis zwischen Serbien und EU gesprochen und folgenden Beitrag gestaltet:

Berichtsinsert: Christian Wehrschütz

Kamera: Predrag Crvenkovic

Schnitt: Mica Vasiljevic

Insert1: 0’32 Srdjan Bogosavljevic, Meinungsforscher in Belgrad

Insert2: 1’19 Srdjan Bogosavljevic, Meinungsforscher in Belgrad

Insert3: 1’41 Srdjan Bogosavljevic, Meinungsforscher in Belgrad

Insert4: 2’28 Srdja Trifkovic, Konservativer Publizist und Intellektueller

Insert5: 3’25 Srdja Trifkovic, Konservativer Publizist und Intellektueller

Insert6: 4’08 Branislav Lecic, Schauspieler

Insert7: 4’58 Branislav Lecic, Schauspieler

Insert8: 5’39 Branislav Lecic, Schauspieler

Gesamtlänge: 6’17

Ende Februar demonstrierten 250.000 Serben in Belgrad gegen die Unabhängigkeit des Kosovo. Der Massenkundgebung folgten Ausschreitungen und Plünderungen, die sich vor allem gegen westliche Botschaften und Geschäfte richteten. Die Polizei griff viel zu spät ein:

0’25

So katastrophal die Bilder für das Image Serbiens waren, so wenig repräsentativ sind sie:

„Die große Mehrheit erwartet einen politischen Kampf um den Kosovo, vor allem diplomatische Maßnahmen, doch man erwartet keine Abkehr von Europa, man will keinen Abbruch diplomatischer Beziehungen, die Mehrheit hält es sogar für unklug, die Botschafter aus Europa abzuberufen.“

Denn die Angst vor einer Isolation Serbiens ist groß. Der Weg zum Schengen-Visum ist kompliziert; trotz ständiger Beteuerungen aus Brüssel ist die Meinung weit verbreitet, von der EU nicht gewollt zu sein. Von der massiven Hilfe etwa beim Wiederaufbau der Donau-Brücke bei Novi Sad haben die Serben keine Ahnung. Schmerzliche Forderungen wie die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal sind jedoch wohl bewusst:

„Was sehr gut kommuniziert wurde ist, dass Europa verlangt, dass Ratko Mladic verhaftet wird. Gleichzeit hat auch die serbische politische Elite sehr gut kommuniziert, dass sie nicht weiß, wo Mladic ist. Der Durchschnittsbürger glaubt daher, dass eine unerfüllbare Bedingung gestellt wird.“

Trotzdem besteht nach wie vor ein rationales Bekenntnis zum EU-Kurs:

„Konstant sagen mehr als 70 Prozent, wir wollen nach Europa, gleichzeitig haben nur 20 Prozent Vertrauen in Europa. Grund dafür ist, dass Europa nicht immer freundlich gesonnen war, und gerade derzeit auch nicht so wahrgenommen wird. Die Anerkennung des Kosovo wird Europa sehr übel genommen, doch es war keine Überraschung und ändert die Grundhaltung der Bürger nicht.“

Sehr wohl geändert hat sich jedoch die Haltung von Vojislav Kostunica. Der nationalkonservative Ministerpräsident bildet das Zünglein an der Waage zwischen EU-Befürwortern und Gegnern. Derzeit ist Kostunica strikt gegen den EU-Kurs; doch seine EU-Skepsis dürfte tiefer reichen:

„In der EU kommen wir jetzt in die Phase einer reifen übernationalen, kulturellen Integration mit einer postchristlichen und postnationalen Universalität. Das ist die Ideologie des Multikulturalismus, die eine Verneinung der authentischen Wurzeln der europäischen Kultur und Zivilisation darstellt. Gezeigt hat sich das an der Streichung des Christentums aus der Präambel der EU-Verfassung.“

Srdja Trivkovic gilt als enger Berater von Kostunica. Der 54-jährige wurde in Belgrad geboren; als Publizist ist er vor allem in den USA tätig. Sein Bestseller, „Das Schwert des Islam“, wurde auch ins Serbische übersetzt. Als Zeuge angeklagter Serben trat er vor dem Haager Tribunal auf. Seiner Ansicht nach könnten Zugeständnisse bei der Zusammenarbeit mit dem Tribunal ein Anreiz für Kostunica sein, zum EU-Kurs zurück zukehren:

„Man muss Serbien eine Art Kompensation anbieten, etwa in Form konkreter Daten, oder im Verzicht auf den Joker, der Radko Mladic heißt; das heißt ein anderes Angebot als wir es bisher gesehen haben. Zweifellos kam es zu einer erdbebenartigen Erschütterung der pro-europäischen Stimmung, gerade in der Schicht, die sehr wichtig für die Anhänger der EU-Integration ist; das ist die Mittelschicht ohne ausdrückliche nationale Orientierung; daher ist jetzt Europa am Zug, um die Dynamik in dieses Land zurück zubringen. Selbst wird Serbien dazu nicht fähig sein.“

Diese Meinung teilen liberale Intellektuelle in Serbien:

„Europa muss Serbien als ziemlich ungefestigtes Terrain begreifen, in dem es wurlt; doch was den Menschen friedlich macht, ist ein offener Weg, allerdings ohne Erpressung. Bitte, kommen sie herein nach Europa, doch arbeiten sie daran, die Sachen so rasch wie möglich in Ordnung zu bringen. Notwendig sind Erziehung, Offenheit und Investitionen, die vor allem den Effekt haben, dass Europa nicht verliert, sondern gewinnt. Doch wie gewinnt man? , indem man die positiven Kräfte in Serbien motiviert, und die gibt es.“

Branislav Lecic ist einer der bekanntesten Schauspieler Serbiens. Schon früh gegen Slobodan Milosevic aktiv, war er Kulturminister im Kabinett von Zoran Djindjic, der im März 2003 ermordet wurde. Obwohl weltoffen empfindet auch Lecic den Verlust des Kosovo:

„Ich fühle mich verletzt, erniedrigt und beleidigt, weil der Kosovo auf diese Weise von einem kulturell und demokratisch wohl bestalten Westen anerkannt wurde. Doch das Maximum, das wir als Volk, das mit diesem Verhalten der USA und Europas unzufrieden ist, derzeit tun können, ist dass wir das nicht anerkennen und Schluss.“

In einem Theater in Belgrad ist Lecic derzeit in dem Stück „Vor dem Ruhestand“ von Thomas Bernhard zu sehen. Lecic spielt den Gerichtspräsidenten und ehemaligen SS-Offizier Rudolf Heller, der jedes Jahr den Geburtstag von Heinrich Himmler festlich begeht.

„Dieser Autor ist eine Seltenheit, nicht weil er sich mit dem historischen Erbe seines Volkes befasst, sondern weil er aufrichtig in die Tiefe geht. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum wir uns für die Aufführung des Stücks entschieden haben; auch unsere Zeit hat den Bedarf an tiefer Aufrichtigkeit und Abrechnung mit der Vergangenheit.“

Beides fehlt weitgehend in Serbien. Die geistige Katharsis wird somit viel länger dauern als die politische Rückkehr zu einem EU-Kurs, die jedoch ebenfalls die Überwindung des Kosovo-Traumas voraussetzt.

Facebook Facebook