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Montenegro vor dem Referendum

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Wiener Zeitung
Berichte Montenegro
„Da“ und „Ne“ – Ja und Nein sind derzeit die meistgebrauchten Worte in Montenegro. Sie leuchten von unzähligen Plakatwänden im ganzen Land, dominieren die Belangsendungen im Fernsehen, die Inserate in allen Zeitungen und alle anderen Werbematerialen, vom Falter bis zum Ruderleiberl. „Da“ steht für ein Ja zur Loslösung von Serbien, „Ne“ ruft zur Bewahrung des Staatenbundes auf. Zu entscheiden haben 484.718 stimmberechtigte Montenegriner. Damit es zur Unabhängigkeit kommt, sind beim Referendum am Sonntag zwei Bedingungen zu erfüllen. Erstens müssen mehr als die Hälfte aller Stimmbürger daran teilnehmen, damit die Abstimmung überhaupt gültig ist; zweitens müssen mindestens 55 Prozent der Stimmen auf die Unabhängigkeit entfallen, soll die Loslösung von Serben rechtsgültig sein.

Diese montenegrinische„lex specialis“ des Referendumsgesetzes bedeutet eine fragwürdige Abkehr vom rechtsstaatlichen Prinzip wonach jede Stimme gleichviel wiegt. Doch die EU setzte diese Regelung als Kompromiss zwischen Befürwortern und Gegnern der Abstimmung durch. Die Befürworter wollten überhaupt kein Quorum, die Gegner ein höheres; sie drohten mit Boykott, sollten nicht mindestens 55 Prozent erforderlich sein. Ohne höheres Quorum hätten die Gegner kaum eine Chance gehabt, weil die Unabhängigkeitsbefürworter bisher alle Wahlen klar gewonnen haben. Nach dieser Festlegung bestimmte weitgehend das Kleine Einmaleins die Überlegungen beider Blöcke. Vor allem den pro-serbischen Kräften liegt an einer hohen Stimmbeteiligung, weil damit die Zahl höher wird, der 55 Prozent ausmacht. Gerechnet wird mit einer Beteiligung von 80 bis 85 Prozent, das sind zwischen 388.000 und 412.000 Stimmen. Im ersten Fall liegt die Latte für die Loslösung bei 213.000, im zweiten Fall bei mehr als 226.000 Stimmen. Diese Zahlen haben die „Independisten“ unter Minister-präsident Milo Djukanovic bisher bei Wahlen noch nicht erreicht. Daher mobilisieren beide Lager mit allen Mitteln. Djukanovic setzt dabei auch auf die Diaspora, die stimmberechtigt ist, wenn ihre Angehörigen noch in Montenegro gemeldet sind. Einige Tausend dürften kommen; immerhin gab die staatliche Fluglinie Montenegro Airlines eine Einschränkung ihrer Flüge nach Belgrad für die Tage vor dem Referendum bekannt, um Kapazitäten für Diaspora-Flüge freizuhaben.

Die pro-serbischen Kräfte setzen dagegen vor allem auf die etwa 10.000 Studenten, die aus Montenegro stammen und in Belgrad studieren. Die serbische Eisenbahn wird die Studenten gratis befördern, doch verlangen die montenegrinischen Bahnen für den Rest der Strecke die Bezahlung der Fahrkarten. Zwar hat Serbien betont, die Loslösung zu akzeptieren, verhält sich somit aber nicht neutral; gedroht wird mit Einschränkungen für Studienberechtigungen, höheren Gebühren für Studenten und für den Aufenthalt von Montenegrinern in serbischen Krankenhäusern. Ob es im Falle der Unabhängigkeit wirklich dazu kommt, ist offen; doch diese möglichen zusätzlichen Kosten werden in Montenegro von den „Unionisten“ gegen die Loslösung ebenso ins Treffen geführt, wie die engen familiären und historischen Beziehungen zwischen beiden Republiken, die seit mehr als 80 Jahren in einem Staat vereinigt sind. Die pro-serbischen Parteien führen ihre Kampagne auch gegen Milo Djukanovic selbst, dem sie Machtmissbrauch, Korruption und die ihrer Ansicht nach triste soziale und wirtschaftliche Lage vorwerfen, die allerdings in Serben zumindestens nicht besser ist.

Ein zentrales Argument haben die pro-serbischen Kräfte jedoch verloren. Es ist die These, gemeinsam schneller den Weg Richtung EU meistern. Denn Brüssel setzte Ende April die Gespräche über eine Annäherung aus, weil Belgrad den mutmaßlichen Kriegsverbrechers Ratko Mladic nicht an das Haager Tribunal ausgeliefert hat. Dieser Umstand stärkte die Glaubwürdigkeit der These von Djukanovic, Montenegro werde allein schneller Richtung EU und NATO vorankommen. In diesem Zusammenhang verweisen die „Independisten“ auf die Ineffizienz des Staatenbundes, zu der sie natürlich selbst beigetragen haben. Sie wollen gute Beziehungen zu Serbien, aber endlich auch offiziell Herr im eigenen Haus sein, denn die gemeinsamen Kompetenzen des Staatenbundes beschränken sich praktisch auf die Armee. Wir rasch dieses Ziel erreicht werden kann, hängt davon ab, ob ein Ergebnis über 55 Prozent oder innerhalb der „Grauzone“ von 50-plus bis 55 Prozent zustande kommt. Im zweiten Fall wäre die gesetzliche Voraussetzung für die Unabhängigkeit nicht erreicht, doch hätte der Staatenbund zweifellos jede Legitimität verloren, weil eine Mehrheit für die Loslösung stimmte. Die Folge könnten monatelange Verhandlungen mit Serbien unter Vermittlung der EU sein. Dieses Szenario will Djukanovic unter allen Umständen vermeiden; nach Umfragen ist es unwahrscheinlich aber nicht ausgeschlossen. Den Sprung über die 55-Prozent-Marke werden die Unabhängigkeitsbefürworter jedenfalls nur mit Hilfe der Minderheiten der Albaner und Bosnjaken schaffen; sie sind in ihrer großen Mehrheit für die Loslösung. Um ihre Stimmen hat Djukanovic massiv geworben; so hat das Parlament jüngst ein Gesetz über erlassen, dass den Status nationaler Minderheiten regelt und ihnen Fixmandate im Parlament einräumt.

Kommt es zur Unabhängigkeit, werden Montenegro und Serbien einige Monate über die endgültige zivile Scheidung verhandeln. In dieser Zeit dürfte auch die Anerkennung Montenegros über die Bühne gehen, das dann seine Annäherung an die EU selbständig fortsetzen wird. Für Serbien bedeuten die allfällige Loslösung und die sich abzeichnende Unabhängigkeit des Kosovo, dass seine Grenzen sechs Jahre nach dem Sturz von Milosevic endlich festgelegt sein werden. Serbien kann sich dann endlich auf seine inneren Reformen konzentrieren, die ohnehin schwierig genug sind. Die endgültige Auflösung des alten Jugoslawien – so schmerzlich sie für Serbien auch sein mag – wird somit die Stabilität am Balkan erhöhen, weil in diesem Jahr auch die letzten großen territorialen Fragen geklärt werden dürften, wenn vor allem Montenegro der Weg Richtung Unabhängigkeit und damit ein großer Schritt zur Nationsbildung geling.

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