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Brennende Grenze - Beginn des jugoslawischen Dramas

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Brennende Grenze - Beginn des jugoslawischen Dramas

Vor 30 Jahren begann mit den Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien der blutige Zerfall des sozialistischen Jugoslawien, das den Tod seines Staatsgründers, des Diktators Josip Broz Tito, gerade einmal um 10 Jahre überlebt hatte. Der Krieg in Slowenien dauerte nur zehn Tage, die Kriege in Kroatien und Bosnien und Herzegowina aber jeweils mehr als drei Jahre und auch die Zahl der Opfer, Vertriebenen und Flüchtlinge war weit höher. 1999 folgte dann als Höhepunkt der NATO-Krieg um den Kosovo, der de facto dazu führte, dass Serbien die Kontrolle über seine albanisch dominierte Provinz verlor! Doch die Unabhängigkeit des Kosovo haben nach wie vor viele Staaten nicht anerkannt, und auch die Folgen der Auflösung des Tito-Staates sind weiter spürbar.

Der blutige Zerfall des ehemaligen Jugoslawien begann an der Staatsgrenze zwischen Österreich und Jugoslawien, der heutigen Grenze zu Slowenien, weil die Volksarmee versuchte, Grenzübergänge wieder in Besitz zu nehmen, die slowenische Truppen kontrollierten. Dieser Krieg an der Staatsgrenze führte auch zum größten militärischen Einsatz des österreichischen Bundesheeres. Etwa 7.700 Soldaten waren von Ende Juni bis Mitte Juli 1991 in der Steiermark und in Kärnten im Einsatz.

Insert1: Martin Weber, ehemaliger Wachkommandant in Radkersburg 00‘53

Insert2: Brigadier Josef Paul Puntigam, ehemaliger Kommandant des Bundesheeres an der steirisch-slowenischen Grenze 02‘51

Insert3: Werner Fasslabend, Verteidigungsminister von 1990 bis 2000 04‘48

Insert4: Werner Fasslabend, Verteidigungsminister von 1990 bis 2000 5‘33

Insert5: Brigadier Josef Paul Puntigam, ehemaliger Kommandant des Bundesheeres an der steirisch-slowenischen Grenze 6‘13

Insert6: Niko Brus, Slowenischer Veteran in Gornja Radgona 8’00 Markus Waibel

Insert7: Niko Brus, Slowenischer Veteran in Gornja Radgona 8’55 Markus Waibel

Insert8: Ladislav Lipic, Vorsitzender des Veteranenverbandes in Slowenien 9‘50 Alexander Rossi

Insert9: Ladislav Lipic, Vorsitzender des Veteranenverbandes in Slowenien 10’48 Alexander Rossi

Insert10: Janko Bostjancic, Slowenisches Museum für Militärgeschichte 11’44 Andy Woerz

Insert11: Lojse Peterle, erster freigewählter Ministerpräsident Sloweniens 12’52 Markus Waibel

Insert12: Jadranka Kosor, ehemalige kroatische Radio-Journalistin 16’56 Christa Hofmann

 

Insert13: Jadranka Kosor, ehemalige kroatische Radio-Journalistin 17’46 Christa Hofmann

Insert14: Momir Bulatovic (+), ehemaliger Präsident Montenegros 20’50 Andy Woerz

Insert15: Ivica Osim, letzter Trainer der jugoslawischen Nationalmannschaft 22’19 Thomas Eichhorn

Insert16: Milan Kucan, erster Präsident Sloweniens 24’11 Alexander Rossi

Insert17: Stipe Mesic, letzter Präsident Jugoslawiens 25’12 Markus Waibel

Insert18: Budimir Loncar, ehemaliger Jugoslawischer Außenminister 26’21 Thomas Eichhorn

Insert 19: Jadranka Kosor: ehemalige kroatische Ministerpräsidentin 29’01 Christa Hofmann

Gesamtlänge: 30’30

Text:

00‘04

Die Zwillingsstädte Bad Radkersburg und Gornja Radgona trennt seit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Mur. Unter dem Dach der EU ist diese Grenze nun kaum mehr spürbar – etwas, das vor 30 Jahren völlig utopisch schien. Damals herrschte Krieg an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien.

00’35:

Die Kaserne in Radkersburg liegt nicht weit von der Staatsgrenze entfernt. Wachkommandant war hier damals Martin Weber

00’46 OFF Martin Weber

„Ich da in dem Wachlokal … der Krieg losgegangen ist.“

0‘1’20 (Szene offen)

01’36

Oberstleutnant Josef Paul Puntigam hatte damals das Kommando über bis zu 1.600 Soldaten an der Grenze zwischen der Steiermark und Slowenien. Puntigam führte stets von vorne; das Soldatenhandwerk hatte er von der Pike auf gelernt.

01’59

Josef Paul Puntigam war einer meiner Ausbildner zum Reserveoffizier. An der slowenischen Grenze treffe ich ihn wieder. Hier hatte er auch brenzlige Situationen zu meistern, von der Trennung slowenischer und jugoslawischer Soldaten bis hin zur Luftlandung auf österreichischem Territorium:

02’21 Puntigam Hubschrauber im OFF

 

02’38 Puntigam, Szene Waldweg

 

02’51 Puntigam

04‘18

Verteidigungsminister war damals Werner Fasslabend von der ÖVP. Im Bundeskanzleramt berichtete er regelmäßig über die Lage in Jugoslawien.

04’31

Bundeskanzler war Franz Vranitzky von der SPÖ. Außenminister war Alois Mock, der sich rund um die Uhr beim Verteidigungsminister informierte:

04’43 OFF Fasslabend

04’47

Werner Fasslabend über Alois

05’10

Alois Mock war besorgt, dass ein zu starkes militärisches Auftreten falsche Signale an das Ausland sendet. Daher ersetzte man vollausgebildete Grundwehrdiener teilweise durch unerfahrene:

05’23 Frage Wehrschütz: ACHTUNG RAUSCHENDER TON

05’31FASSLABEND OFF

05’33 Werner Fasslabend GDW Verlängerung

05‘52

In Straß war Josef Paul Puntigam viele Jahre Regimentskommandant.

05‘59

In der Kaserne gibt es auch ein kleines Militärmuseum; ein Raum ist dem Krieg in Slowenien gewidmet. Teilt er die Einschätzung seines ehemaligen Verteidigungsministers Werner Fasslabend?

06’11

Puntigam „Falsch kann man nicht steigern …“

06‘30

Die Brücke über die Mur eröffneten Josip Bros Tito und Bundespräsident Franz Jonas vor mehr als 50 Jahren. Sie war ein Symbol für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Jugoslawien und Österreich.

 

06‘46

Freundschaftlich sind die Kontakte zwischen Josef Paul Puntigam und den slowenischen Veteranen des Unabhängigkeitskrieges.

06’57 SZENE OFFEN

07‘11

Auf der slowenischen Seite der Brücke erinnert ein Denkmal an die Kämpfe in Gornja Radgona. Obmann des Veteranenverbandes der Stadt ist Niko Brus. Er kämpfte an vorderster Front gegen die jugoslawischen Truppen. Schwer getroffen wurde auch der Kirchturm;

 

07‘36

die Schäden durch die Gefechte waren in der Stadt beträchtlich. Die jugoslawischen Panzer standen direkt am Ufer der Mur; von oben versuchten Slowenen einen Angriff:

07’54 Niko Brus Markus Waibel

„Hier hatten wir fünf Jungs mit panzerbrechenden Waffen; sie beschossen die Panzer der jugoslawischen Armee bei der Mur massiv. Die Panzer erwiderten das Feuer. Unsere Jungs konnten sich retten, aber einem wäre fast der Arm weggeschossen worden“.

08‘17

Bei schweren Waffen war die jugoslawische Volksarmee zu Beginn des Krieges klar überlegen. Doch die Panzer hatten mit Straßenblockaden sowie Blockaden von Kasernen zu kämpfen.

08’35

Die Slowenen versuchten durch Angriffe auf den Nachschub auch mit selbst gebastelten Sprengsätzen den Mangel an panzerbrechenden Waffen auszugleichen; ein Beispiel schildert Niko Brus:  

08’52 Niko Brus Markus Waibel

„Als die jugoslawische Armee am 28. Juni nach Gornja Radgona kam, versammelten sich unsere Jungs in diesem Gebäude und entschlossen sich zum Angriff mit Molotow-Cocktails. Dabei wurden etwa 10 LkWs vernichtet; somit blieb die Armee ohne Nachschub, Treibstoff und Wasser. Trotzdem fuhren ihre Panzer direkt zum Grenzübergang.“

09’19 Szene OFFEN

09’32

Mehr als 30.000 Slowenen waren im Einsatz; sie wussten wofür sie kämpften. Vorsitzender des landesweiten Veteranen-Verbandes ist der frühere Generalmajor Ladislav Lipic:

 

 

 

09’49 Ladislav Lipic Alexander Rossi

„Der Nachrichtendienst der jugoslawischen Armee bewertete die Widerstandsfähigkeit der slowenischen Territorialverteidigung falsch. Die Armee rechnete nicht mit einem Widerstand zumal auch die Wirtschaft in der Krise war. Doch es gab es nicht nur einen Rebellion der Öffentlichkeit, sondern auch einen bewaffneten Widerstand der Territorialverteidigung und der Polizei.“

10’24

Gering war dagegen die Kampfmoral der jugoslawischen Vielvölker-Armee. Außerdem konnte Slowenien über seine Nachbarstaaten Waffen beschaffen; ob diese Kanäle auch über Österreich liefen, ließen alle befragten Veteranen offen. Klar ist, dass auch die jugoslawische Seite als unfreiwilliger Waffenlieferant diente:

10’47 Ladislav Lipic, Alexander Rossi

„Entscheidend war auch, dass die Einheiten der Territorialverteidigung Waffenlager der jugoslawischen Armee in Besitz nahmen, in denen sich schwere Waffen befanden. Dadurch bekamen wir enorm viele Waffen, sodass wir am Ende des zehntägigen Konflikts stärker waren als die Jugoslawische Armee.“

11‘13

Das Museum für Militärgeschichte in Pivka vermittelt einen umfassenden Eindruck über den Krieg in Slowenien. Untergebracht ist das Museum in einer ehemaligen Kaserne der jugoslawischen Volksarmee. Von hier aus rollten die ersten jugoslawischen Panzer an die Grenze zu Italien, und zwar am Nachmittag desselben Tages, an dem Slowenien in Laibach feierlich seine Unabhängigkeit proklamierte:

 

 

 

11’41 Janko Bostjancic Andy Woerz

„Die slowenische Führung wusste davon, verschwieg die Information aber der Öffentlichkeit. Für die slowenische Seite war es sehr wichtig, dass die Erklärung der Unabhängigkeit am Platz der Republik so feierlich wie möglich erfolgte, damit die Bilder des neuen Staates schneller verbreitet wurden als die Bilder vom Krieg. Jugoslawien sollte den Krieg nicht als Bürgerkrieg darstellen können, sondern diese Militäraktion als Aggression gegen einen unabhängigen Staat dargestellt werden.“  

12’17 SZENE OFFEN

12’21

Diese Strategie ging auf, und die Bilder der Unabhängigkeitsfeier gingen um die Welt. Die Unabhängigkeit war das Ergebnis eines Schulterschlusses zwischen der alten kommunistischen Elite und den neuen demokratischen Kräften. Massiv für die Selbständigkeit gekämpft hat Lojse Peterle; - der christ-demokratische Politiker war 1990 der erste demokratisch gewählte Regierungschef Sloweniens:

12’50 Lojse Peterle Markus Waibel

„Ich war glücklich, dass wir das erleben durften, dass wir vom Traum zur Realität der slowenischen Staatlichkeit und Demokratie kamen. Auf diesem Platz spürten wir den Hauch der Geschichte, doch während wir uns hier freuten, kamen bereits die Panzer, die in den Händen jener waren, die unsere Freiheit nicht kümmerte.“

13’21

Der Krieg in Slowenien dauerte 10 Tage. Im Land lebten nur wenige Serben, daher hatte Belgrad kein massives Interesse, die kleine jugoslawische Teilrepublik zu halten. Auch deshalb forderte der Krieg in Slowenien weniger als 100 Todesopfer.

13‘45

Dagegen liegen allein auf diesem kroatischen Friedhof mehr als 1000 gefallen Soldaten und getötete Zivilisten. Die meisten starben bei der Schlacht um die Stadt Vukovar im Jahre 1991. Das zeigen auch die Inschriften auf den Grabsteinen;

14‘05

sie zeigen aber auch, wie viele junge Menschen hier in einem Krieg ihr Leben verloren, den kaum jemand für möglich gehalten hatte, und dem EU und USA tatenlos zusahen.

14’20

Die Belagerung von Vukovar begann Ende August 1991 und dauerte drei Monate. Federführend war damals noch formell die jugoslawische Volksarmee unterstützt von Freiwilligen aus Serbien. Artilleriebeschuss und Häuserkampf führten zu massiven Zerstörungen.

14’38

Die genaue Zahl der Toten und Verletzten auf beiden Seiten ist nicht bekannt. Von der Bewaffnung her waren die kroatischen Verteidiger klar unterlegen; Ende November war auch der letzte Widerstand gebrochen.

15’01

In Vukovar sind die meisten Kriegsschäden nun beseitig. Viele Gebäude weisen noch auf die Zeit der Habsburger hin.

15‘11

Vor dem Krieg war die Industrie ein Träger des Wohlstandes, doch nun liegt das Volkseinkommen weit unter dem kroatischen Durchschnitt. Vukovar liegt ebenso wie Wien und Belgrad an der Donau. Die Donau bildet auch die Grenze zwischen Kroatien und Serbien;

15‘30

vor Corona legten immer mehr Kreuzfahrtschiffe hier an und belebten den Tourismus.

15’40

Der Wasserturm ist Symbol der Stadt und Mahnmal zugleich; aus diesem Grund wurden auch nicht alle Kriegsschäden beseitigt.

15’52

Sein Inneres beherbergt nun ein Museum, das Zeugnis ablegt über den Krieg und seine dramatischen Folgen auch für die Stadt. Vor dem Krieg zählte Vukovar 45.000 Einwohner, 30 Prozent waren Serben. Das Verhältnis blieb in etwa gleich, doch die Einwohnerzahl sank auf 24.000. Abwanderung und Überalterung sind ein großes Problem; auch das Verhältnis zwischen beiden Völkern ist nach wie vor belastet. Die Beseitigung der Wunden des Krieges erweist sich als sehr schwierig.

16’32

Beim staatlichen Radio in Zagreb treffe ich meine frühere Kollegin Jadranka Kosor. Sie zählte während des Krieges zu den bekanntesten Journalistinnen in Kroatien. Für das Radio führte sie unzählige Interviews mit Flüchtlingen und zeigte so wie viel Leid und Elend hinter dem Begriff Krieg steckt:

16’54 Jadranka Kosor Christa Hofmann

„Ich habe hunderte Kinder kennengelernt, die die Belagerung von Vukovar erlebt haben, das heißt ein Leben im Keller ohne Wasser, Strom und Lebensmittel. Faszinierend war, dass diese Kinder gut ausgesehen haben – im Unterschied zu den Erwachsenen, die abgemagert und ausgezehrt aussahen. Warum? Weil die Kinder auch noch das letzte Stückchen Brot bekamen. Das sagte ich einem Kind; es sah mich wie ein Erwachsener an und sagte, Du weißt nicht, wie es in mir aussieht. Somit wurden diese Kinder in diesem Schrecken einfach erwachsen.“

 

17‘31

Das Elend Vertriebener läßt Journalisten nicht kalt, wie auch ich aus meiner Erfahrung in der Ukraine weiß. So versuchte auch Jadranka Kosor zu helfen, wo es machbar war.

 

17’44 Jadranka Kosor Christa Hofmann

„Vertriebene Frauen, die in Schulhöfen und Baracken all diese Jahre lebten, machten daraus ein neues Zuhause. Diese Frauen beschäftigten sich mit Nähen und Häkeln, und so begann ich mit humanitärer Hilfe, denn die Nachfrage nach Nähmaschinen war groß. Dadurch konnten sie für ihre Kinder nähen und auch ihre Nerven beruhigen. Und so habe ich Nähmaschinen beschafft, etwa durch Aufrufe im Radio.“

 

18’20

Das 20. Jahrhundert war ein außerordentlich blutiges im ehemaligen Jugoslawien; das gilt insbesondere für den Zweiten Weltkrieg. Ein Symbol dafür ist die sogenannte steinerne Blume auf dem Gebiet des ehemaligen Konzentrationslagers Jasenovac in Kroatien;

18‘42

die meisten Opfer wurden mit dem Zug hierher transportiert. vom Lager selbst gibt es nur Bilder, weil die faschistischen Ustasa die Gebäude Ende April 1945 sprengten.

 

 

18‘57

Jasenovac belastet bis heute das Verhältnis zwischen Serbien und Kroatien, denn die Mehrheit der Opfer sind Serben. Hinzu kommt der politische Missbrauch der Zahlen. Seriöse Historiker gehen von bis zu 120.000 Opfern im Hauptlager aus, in Serbien ist dagegen sogar die Zahl 800.000 im Umlauf. Namentlich erfasst sind mehr als 80.000 Opfer.

19’34

Wie blutgedrängt die Erde aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges im ehemaligen Jugoslawien ist, zeigte im März 2008 die Öffnung eines Massengrabes bei der Stadt Lasko in Slowenien. Ein ehemaliges Kohlebergwerk nutzen die siegreichen Partisanen im Frühsommer 1945 als einen Ort für Massenmorde. 1.400 menschliche Überreste wurden bis zum Jahre 2016 ausgegraben, darunter auch Frauen. Insgesamt gibt es in Slowenien allein mehr als 600 Massengräber.

20’17

In der Zeit des Tito-Jugoslawien waren nicht nur diese Morde ein Tabuthema; obwohl die lokale Bevölkerung natürlich um die Massengräber wusste, fand eine Aufarbeitung der Vergangenheit nicht statt.

20’33

Das gilt auch für Montenegro , dessen Präsident Momir Bulatovic in den 90iger Jahren war. Spielten die Massenmorde im Zweiten Weltkrieg auch eine Rolle beim blutigen Zerfall von Jugoslawien?

20’48 Momir Bulatovic Andy Woerz

„Ich fürchte ja. Nehmen wir doch mein Montenegro, das zuerst von den Italienern und dann von den Deutschen besetzt war. Während des Zweiten Weltkrieges kam etwa in der Ortschaft Kolasin nur ein Deutscher ums Leben, und der bei einem Autounfall. Die enormen Opfer gab es zwischen Partisanen und Tschetniks. Die Besatzungsmächte verwalteten das Land, doch diese Besatzung führte zu einem Bruderkrieg bzw. Bürgerkrieg. Dieser Wahrheit haben wir uns nicht gestellt; und dann wiederholte sich die Geschichte."

21’27

Doch diese Wiederholung erfolgte nicht ohne Vorankündigung und zwar beim Fußball, der bekanntlich Züge eines Ersatzkrieges tragen kann. So kam es im Mai 1990 in Zagreb zu massiven Ausschreitungen zwischen kroatischen und serbischen Fans. Sie waren so stark, dass das Spiel zwischen Dynamo Zagreb und Roter Stern Belgrad gar nicht erst angepfiffen werden konnte.

22’00

Die Krise des Gesamtstaates zeigte sich auch beim Freundschaftsspiel Jugoslawien gegen die Niederlande, das im Juni 1990 ebenfalls in Zagreb stattfand. Trainer des jugoslawischen Teams war damals Ivica Osim, der auch der letzte Trainer dieser Nationalmannschaft sein sollte:

22’17 Ivica Osim Thomas Eichhorn

„Es ist traurig; Du kannst nichts machen, Deine Fans pfeifen die eigene Mannschaft aus, und das bei einem vollen Stadion, was noch trauriger ist. Beim Fußball waren die Spannungen nicht schwer zu bemerken, weil es viele Zuschauer gibt. Spiele werden entweder angefeuert oder attackiert, durch Beleidigungen ihrer Mütter, ihrer Herkunft oder ihres Glaubens. Das alles wirkt negativ auf sie ein. So bat mich ein slowenischer Spieler, ihn nicht zu nominieren, weil ihn Slowenen auf der Straße angegriffen haben. Dieselbe Bitte äußerte ein Kroate; seine Frau wurde in Split auf der Straße angegriffen, weil sich ihr Mann für die jugoslawische Nationalmannschaft ausgesprochen hatte.“

23‘04

Im Mai 1992 trat Osim als Nationaltrainer zurück – aus Protest gegen die Belagerung von Sarajevo, in dem auch seine Frau und sein Sohn festsaßen.

23‘20

Im Mai 1980 starb Josip Broz Tito, Gründer und persönliche Klammer des von ihm geschaffenen sozialistischen Jugoslawien. Internationale Befürchtungen vor einer jugoslawischen Krise unmittelbar nach seinem Tod erwiesen sich als falsch. Tito starb in Laibach, wurde im Parlament aufgebahrt, und wurde dann nach Belgrad überführt.

23’53

Am selben Platz treffe ich Milan Kucan, den ehemaligen Vorsitzenden der slowenischen Kommunisten und ersten Präsidenten des unabhängigen Slowenien. Hat auch das Ende des Kalten Krieges den Zerfall Jugoslawiens begünstigt?

24’10 Milan Kucan Alexander Rossi

Jugoslawien war mit seiner Politik der Blockfreiheit und seiner Spielart des Sozialismus eine Art Pufferzone zwischen Ost und West. Daher herrschte die Überzeugung, dass man Jugoslawien bewahren müsse. Doch mit dem Ende der Blöcke in Europa durch den Fall der Berliner Mauer wurde die Rolle Jugoslawiens bedeutungslos. Damals bestand noch die Sowjetunion; die Angst vor ihrem unkontrollierten Zerfall war ein Grund, warum die Internationale Gemeinschaft beim Zerfall Jugoslawiens zurückhaltend war. Doch als die Sowjetunion dank Michael Gorbatschow friedlich zerfiel, gab es keinen Grund mehr, die Haltung zum Zerfall Jugoslawiens nicht zu ändern.“

24’53

Ein Zeitzeuge erster Ordnung ist auch der Kroate Stipe Mesic, der letzte Präsident des jugoslawischen Staatspräsidiums. Die Rolle der jugoslawischen Volksarmee am Vorabend des blutigen Zerfalls von Jugoslawien beschreibt er so:

 

25’10 Stipe Mesic Markus Waibel

„Die Generäle kamen nach Moskau und forderten von der Führung der sowjetischen Streitkräfte eine Art Unterstützung für einen Militärputsch in Jugoslawien. Doch die Russen sagten, wie haben genug eigenen Probleme, da mischen wir uns nicht ein. So kamen die Generäle zurück nach Belgrad und versuchten etwas anderes; sie wollten eine Ermächtigung durch das Staatspräsidium, selbständig handeln zu dürfen. Das wäre einem Militärputsch gleichgekommen. Doch die Abstimmung im Staatspräsidium endete mit einem Patt, und so konnte dieser Beschluss nicht gefasst werden.“

25’49

International hoch angesehen und bestens vernetzt war Budimir Loncar, Titos letzter Außenminister. Der 96-jährige hat ein phänomenales Gedächtnis und ist eine außerordentliche historische Quelle. Loncar kannte alle führenden Politiker seiner Zeit, dazu zählte Michail Gorbatschow, der letzte Staatschef der Sowjetunion. Warum zerfiel dieser Staat friedlich, Jugoslawien aber nicht?

26’19 Budimir Loncar Thomas Eichhorn

„Michail Gorbatschow war gegen den Zerfall der Sowjetunion, doch er blieb ruhig und stellte sich nicht dagegen; dagegen war auch die sowjetische Armee, die aber passiv blieb. Im Fall Jugoslawiens war das genau umgekehrt. Der wichtigste Partner von Slobodan Milosevic war die Armee; sie war der letzte Sargnagel Jugoslawiens. Milosevic wollte Jugoslawien durch Serbien majorisieren oder die weltpolitischen Änderungen nützen, um die Grenzen Serbiens zu ändern. Außerdem kam es beim 14. Kongress zum Zerfall der kommunistischen Partei Jugoslawiens; das war im Jänner 1990 in Belgrad. Slowenien und Kroatien verließen den Kongress. Das war im Grund bereits der Beginn des Zerfalls von Jugoslawien.“

27’11

Und die Folgen dieses blutigen Zerfalls sind bis heute spürbar; zwar besteht keine Kriegsgefahr mehr, und die Zusammenarbeit der Nachfolgestaaten nimmt zu; doch noch sind viele Probleme ungelöst, und die Aussöhnung zwischen den Völkern macht nur geringe Fortschritte.

27’32

Ein positives Zeichen setzten Serbien und Kroatien im Raum Vukovar als die Präsidenten beider Länder, Boris Tadic und Ivo Josipovic, vor mehr als zehn Jahren die Gedenkstätte bei Ovcar besuchten. Hier ermordeten jugoslawische und serbische Verbände nach dem Fall von Vukovar im November 1991 etwa 200 kroatische Soldaten und Zivilisten.

28’00

Doch auch ein kroatisches Dorf besuchten die beiden Präsidenten, in dem serbische Zivilisten ermordet wurden; denn nicht vergessen werden darf, dass auch die Serben einen hohen Blutzoll zahlten und Hunderttausende aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

28’18

Doch der eigentliche Motor für Aussöhnung und Reformen am sogenannten Westbalkan, die EU-Perspektive, stockt. Nach Slowenien im Jahre 2004 schaffte im ehemaligen Jugoslawien nur noch Kroatien 2013 den Beitritt zur EU. Dieses Kunststück gelang Jadranka Kosor, die von Juli 2009 bis Ende 2011 Ministerpräsidentin war. Damit krönte sie ihre politische Karriere, die 1995 begann, als Staatspräsident Franjo Tudjman die bekannte Radio-Journalistin in die Politik holte.        

28’58 Jadranka Kosor Christa Hofmann

„In der EU herrscht derselbe Unwille wie zu der Zeit als ich die Regierung übernahm. Niemand in der EU war in dieser Zeit der großen Wirtschaftskrise bereit, über die Erweiterung nachzudenken oder daran interessiert, dass Kroatien beitritt. Alle sagten mir, dass wir die Blockade Sloweniens nicht lösen und die Verhandlungen nicht beenden würden. Ähnlich ist es heute; die EU ist beschäftigt mit der Corona-Pandemie und der von ihr hervorgerufenen Wirtschaftskrise, und niemand denkt aufrichtig über irgendeine Erweiterung nach.“  

29’44

Trotzdem überwiegt aus österreichischer Sicht das Positive. So stand 30 Jahre nach dem Beginn des jugoslawischen Dramas das Bundesheer zwar wieder an der Grenze zu Slowenien – allerdings nicht wegen drohender Kriegsgefahr, sondern wegen der Corona-Krise. Slowenien und Kroatien sind nun Mitglieder von EU und NATO und politische gefestigte Staaten. Obwohl am Balkan noch viele Herausforderungen bestehen, hat sich das geographische Umfeld Österreichs stabilisiert – auch das ist eine Realität, die vor dreißig Jahren völlig utopisch erschienen wäre.

Abspann:

Christian Wehrschütz

Kamera: Andrej Suvacarov

Drohne: Luka Suvacarov

Schnitt: Barbara Katzelmayer

AKM

Komponist und Interpret: David Byrne

Titel:
„The Lodger“. Länge: 2min12sek
„Mnemonic Discordance“.  Länge: 2min06sek

Thrill Jockey Records  (thrill133)

Rechte Bilder:

Alles Eigendreh mit Ausnahme von

Vukovar Zerstörung EBU

Kinder – Flüchtlinge: EBU

Fußball: Rechtefrei

ORF-Archiv:

Bilder Bundesheer an der Staatsgrenze

Bulatovic, Baker in Belgrad, Ausschreitungen

Tito-Überführung ,

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