Der kroatische Marathon Richtung EU auf der Zielgeraden
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Wiener Zeitung
Berichte Kroatien
Allein beim Kapitel Justiz und Grundrechte bestehen 23 Bedingungen („Benchmarks“ / Prüfmarken), die Kroatien erfüllen muss, damit dieses Kapitel geschlossen werden kann. Dazu zählen ein umfassender Kampf gegen die Korruption, der mehr sein muss als nur die Abrechnung mit den Parteigängern des früheren Ministerpräsidenten Ivo Sanader in Politik und staatsnahen Betrieben; hinzu kommen der Abschluss der Justizreform und die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Chefankläger Serge Brammertz ist nach wie vor unzufrieden, weil Kroatien noch immer nicht den Verbleib der sogenannten Artillerie-Tagebücher geklärt hat; das sind Dokumente, die das Tribunal für Prozesse gegen kroatische Generäle braucht, denen die planmäßige Vertreibung der serbischen Minderheit bei der Befreiung Kroatiens im Sommer 1995 vorgeworfen wird.
Noch weit größere Probleme dürfte Kroatien jedoch das Kapitel Wettbewerb bereiten. Dabei geht es auch um die Subventionspolitik der Regierung, die grundlegend geändert werden muss, um das Kapitel abschließen zu können. Zu den kroatischen Problemzonen zählen hier ein Stahlwerk und die sechs Schiffswerften. Ihre Produktivität ist viel zu gering, die meisten sind defizitär, doch in den Werften arbeiten insgesamt 12.000 Beschäftigte. Die Restrukturierung der Schiffswerften ist schon lange überfällig, doch in besseren Zeiten geschah nichts, und nun müht sich die Regierung wenigstens für drei Werften Käufer zu finden.
Generell fällt die Endphase der EU-Beitrittsverhandlungen mit einer tiefen Krise in Kroatien zusammen. Im ersten Quartal 2010 verzeichnete das Bruttoinlandsprodukt einen Rückgang von 2,5 Prozent, und in den ersten fünf Monaten erreichte das Budgetdefizit bereits 80 Prozent des Werts, der für das ganze Jahr vorgesehen war. Ein Nachtragshaushalt steht bevor, das heißt zusätzliche Schulden, die offenbar auch aufgenommen werden müssen, um die Pensionen zahlen zu können. In Kroatien kommen auf einen Pensionisten statistisch nur mehr 1,33 Beschäftigte, wobei die Beschäftigungsquote bei nur 57 Prozent der Bevölkerung liegt (EU-Durchschnitt mehr als 63 Prozent). Knapp 300.000 der 4,4 Millionen Einwohner sind arbeitslos, während die Lebenshaltungskosten sehr hoch sind. Grundnahrungsmittel sind in Kroatien sogar teurer als in 11 Staaten der EU, Milch und Brot sind nur geringfügig billiger und das bei einem Durchschnittslohn von monatlich etwa 700 Euro. Um den Unternehmen mehr Anreize für die Aufnahme von Arbeitskräften zu bieten, wollte die Regierung das rigide Arbeitsgesetz reformieren. Doch die Gewerkschaften sammelten 813.000 Unterschriften und erzwangen so ein Referendum über dieses Gesetz, dessen Änderung nun aufgeschoben ist. Der Weg in die EU hält für Kroatien somit noch viele Hürden bereit, und das Ziel dieses Marathons dürfte Kroatien wohl erst im nächsten Jahr erreichen, denn mit der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages ist wohl erst im ersten Halbjahr 2011 zu rechnen.