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Kroatiens schmerzlicher Weg in die EU

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Berichte Kroatien
Das künftige EU-Mitglied Kroatien steckt wirtschaftlich in einer tiefen Krise. Daher hat die neue Mitte-Links-Regierung sich selbst und dem Land auch einen Sparkurs verordnet, um eine weitere Herabstufung durch Ratingagenturen zu verhinrn. So sieht das jüngst verabschiedete Budget für 2012 Einsparungen von mehr als 560 Millionen Euro vor, wobei die Ausgaben etwa 16 Milliarden Euro betragen sollen. Die kroatische Wirtschaft soll heuer nur um 0,8 Prozent wachsen, und die Kroaten müssen den Gürtel noch enger schnallen, und das bei einem Durchschnittslohn von weniger als 800 Euro, während etwa Treibstoff in Kroatien etwa gleich viel kostet wie in Österreich. Gespart werden soll auch bei staatlichen Bediensteten, im Gesundheitswesen und bei den Bauern, die jüngst tagelang in Zagreb gegen ihrer Ansicht nach zu geringe Abnahmepreise für Milch protestierten. Binnen weniger als zehn Jahren sank die Zahl der Milchbauern auf ein Viertel, und auch der EU-Beitritt wird den Strukturwandel der Wirtschaft massiv beschleunigen. Denn vielen Wirtschaftszweigen stehen mit dem EU-Beitritt nicht nur neue Konkurrenten, sondern auch die Bedrohung traditioneller Märkte im ehemaligen Jugoslawien bevor.

Berichtsinsert: Christian Wehrschütz aus Kroatien

Insert1: 0’54 Martin Erich Kuen, Schenker Kroatien

Insert2: 2’29 Davor Tomaskovic, Vorstandsvorsitzender des Tabakkonzerns TDR

Insert3: 3’22 Davor Tomaskovic, Vorstandsvorsitzender des Tabakkonzerns TDR

Insert4: Stipan Bilic, Kroatischen Verband der Konditoreiindustrie

Insert5: Maruska Vizek, Wirtschaftsinstitut Zagreb

Insert6: Emil Tedeschi, Gründer und Generaldirektor der Atlantic-Gruppe

Insert7: Emil Tedeschi, Gründer und Generaldirektor der Atlantic-Gruppe

Gesamtlänge:

0’03

Als idyllisches Urlaubsparadies wirbt Kroatien um ausländische Touristen. Und mit 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist der Tourismus ein zentraler Wirtschaftszweig, zumal die Industrieproduktion pro Jahr nicht viel mehr erwirtschaftet als der Fremdenverkehr.

0‘22

Mit dem Wegfall aller Zollschranken und dem freien Warenverkehr nach dem EU-Beitritt brechen für so manchen Wirtschaftszweig harte Zeiten an. Denn nur wenige Speditionen sind so gut vorbereitet, wie dieser internationale Logistikanbieter in Zagreb, der etwas mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigt. Die Firma führt etwa für große Sportartikelanbieter die gesamte Etikettierung ebenso durch wie die Planung von der Produktion bis zum Endkunden. Erledigt werden alle Zollformalitäten, die nach dem EU-Beitritt viel geringer werden:

0’54

„Wir sprechen hier in Kroatien von in Summe 60.000 Mitarbeitern, die im direkten Logistikbereich beschäftigt sind. Mit dem EU-Beitritt Kroatiens wird durch die nicht mehr in dem Ausmaße notwendigen Zollformalitäten es zu einer Reduktion der Arbeitsplätze von knapp 50 Prozent, sprich 30.000 Mitarbeitern, kommen.“

1’18

Für Kroatien bedeutet das einen harten Schlag, liegt die Arbeitslosigkeit ohnehin bereits bei 18 Prozent, und heuer dürfte die Wirtschaft nur minimal wachsen – wenn überhaupt. Nicht nur der freie Warenverkehr mit der EU wird der Wirtschaft zu schaffen machen. Gegenüber Serbien und anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawien werden neue Zollschranken entstehen. Diese Länder sowie Albanien und Moldawien bilden derzeit mit Kroatien die Freihandelszone CEFTA; nach dem EU-Beitritt muss Kroatien jedoch das Zollregime der EU gegenüber diesen Drittstaaten anwenden.

1’55

Das trifft auch den Tabakkonzern TDR, den unumstrittener Marktführer in Kroatien. Die TDR allein sorgt für drei Prozent der kroatischen Budgeteinnahmen und ist damit der größte einzelne Steuerzahler des Landes. 60 Prozent der Zigarettenproduktion gehen in den Export, davon wiederum Vierfünftel in das ehemalige Jugoslawien. Jede dritte Zigarette, die in Bosnien und Herzegowina geraucht wird, stammt aus dieser Fabrik, in Serbien ist es fast jede Zehnte. Diese Marktposition könnte nun bedroht sein:

2’29

„Wenn Kroatien am 1. Juli 2013 der EU beitritt, werden wir aus der CEFTA austreten und damit einen niedrigen Zolltarif oder einen NULL-Zolltarif verlieren. Dafür werden die Zolltarife der EU gelten, die beträchtlich höher sind. In Serbien wird der Zoll auf 58 Prozent steigen, in Bosnien und Herzegowina von Null auf 15 Prozent. Wir schätzen, dass uns dadurch Mehrausgaben beim Zoll von zehn Millionen Euro entstehen. Sie können wir nicht auf unsere Konsumenten abwälzen.“

3‘01

Denn im Durchschnitt kostet ein Packerl Zigaretten in Kroatien bereits 2 Euro und 50 Cent. Gemessen an der Kaufkraft ist das der höchste Zigarettenpreis in Europa, wobei der Konsum seit Jahren leicht rückläufig ist. Welche Option hat somit die TDR, um mit der neuen Lage nach einem EU-Beitritt fertig zu werden?

3’22 (Von 3’31 – 3’51 werden Bilder dem Zitat unterlegt)

„Die TDR hat zwei Optionen; sie kann die Zollbelastung von zehn Millionen Euro solange bezahlen, bis Serbien, Bosnien und Herzegowina und andere Länder der EU beigetreten sind. Zweitens kann sie Teile der Produktion in einige CEFTA-Länder verlagern, und so der Zoll-Zahlung entgehen. Wir prüfen alle Optionen und haben uns noch nicht entschieden. Doch es gibt noch die geringe Möglichkeit einer dritten Option, dass die EU mit den CEFTA-Ländern einen Vertrag schließt, durch den allen EU-Staaten erlaubt wird, den Status zu halten, den Kroatien als CEFTA-Mitglied gehabt hat.“

4’00

Ob die neue Mitte-Links-Regierung unter Zoran Milanovic die EU nur Monate nach dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen zu diesem Zugeständnis bewegen wird können ist fraglich. Sicher ist, dass der Ausstieg aus der CEFTA viele Bereiche der Wirtschaft trifft.

4’17

Grafik:

Im Vorjahr exportierte Kroatien Waren im Wert von 8,8 Milliarden Euro. Wichtigster Handelspartner ist die EU; doch fast ein Fünftel der Ausfuhren entfällt auf die Freihandelszone CEFTA, das sind fast 1,7 Milliarden Euro, die auf die unterschiedlichsten Wirtschaftszweige entfallen und zwar von der Tabak- bis hin zur Lebensmittelindustrie.

4’19

Von zwei Seiten unter Druck kommen werden Keks- und Schokoladeproduzenten, die in Kroatien 4.700 Mitarbeiter beschäftigen. Einerseits fallen die Schutzzölle gegenüber der EU, anderseits drohen neue Zollbarrieren gegenüber der CEFTA, auf die zwei Drittel der Exporte entfallen. Negativ zu Buche schlägt auch die mangelnde Produktivität:

4’41

„Im Durchschnitt liegt die Produktivität eines Arbeiters in der Konditoreiindustrie bei 50.000 bis 60.000 Euro; in Westeuropa sind es etwa 240.000 Euro, das heißt, bei uns arbeiten viel mehr Menschen. Das ist ein Erbe, das wir in den vergangenen 20 Jahren nicht lösen konnten und daher auch nicht in den nächsten eineinhalb Jahren bis zum EU-Beitritt lösen werden. Wenn man das mit den Methoden des freien Marktes löst, dann sind die sozialen Kosten viel höher als die wirtschaftliche Effizienz, die man bei den Produzenten erzielt hat.“

5‘16

Doch nicht nur die niedrigere Produktivität erschwert die Konkurrenzfähigkeit, sondern auch ein restriktives Arbeitsgesetz und die hohen Arbeitskosten. So ist Kroatien im Vergleich mit anderen Staaten Mittel- und Südosteuropas jedenfalls kein Niedrig-Lohn-Land:

Grafik

In Kroatien beträgt der Bruttolohn mehr als 1.000 Euro, während die Wirtschaftsleistung pro Kopf bei 10.400 Euro liegt. Obwohl dieser Wert in Tschechien und der Slowakei weit höher ist, sind die Löhne dort deutlich niedriger. Noch viel niedriger sind die Löhne in den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien, deren Märkte noch dazu viel größer sind.

5’36

Von den Parlamentsparteien fordern Wirtschaftsexperten daher schon lange eine Senkung der Lohnnebenkosten und eine Reform des Arbeitsrechtes um den Faktor Arbeit zu entlastet:

5’46

„Kroatien ist eines jener Länder, wo die Besteuerung der Arbeit außerordentlich hoch ist, während die Besteuerung von Kapital fast nicht besteht. Dividenden, Zinsen auf Einlagen und auch Grund- und Boden werden nicht besteuert. Da gibt es viel Handlungsspielraum für die Regierung, um die steuerliche Belastung der Arbeit zu verringern. Das wäre ein Beitrag, um die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen.“

6’12

Kein Problem mit der Konkurrenzfähigkeit hat die Atlantic-Gruppe. Sie ist der drittgrößte Getränkehersteller in Südosteuropa und beschäftigt mehr als 4.700 Mitarbeiter in 11 Ländern. Durch Produktionsstandorte in Serbien, Mazedonien sowie Bosnien und Herzegowina wird die Drittstaatenklausel der EU keine negativen Folgen haben, und durch Betriebe in Slowenien und Deutschland ist die Atlantic-Gruppe auch bereits in der EU präsent. Der Beitritt Kroatiens wird ausdrücklich begrüßt:

6’42:

„Alles was in Kroatien produziert wird, kann dann vermarktet werden als „Hergestellt in der EU“; und das ist gerade für Konsumgüter bei der Wahrnehmung von Verbrauchern in den Ländern der alten EU sehr wichtig. Denn es ist nicht dasselbe, ob auf Produkten steht: „Hergestellt in Bulgarien, Kroatien oder Ungarn“, oder wenn geschrieben steht, „Hergestellt in der EU“. Ich denke, die EU ist in den Augen der Konsumenten eine Art positiver Regenschirm für Produkte, die in den Ländern des neuen Europa hergestellt wurden.“

7’18

Für Kroatien selbst sei die EU aber auch eine große Herausforderung. Ein großes Problem sei zum Beispiel die mangelnde Attraktivität Kroatiens für hochqualifizierte Arbeitskräfte:

7’29

„Was passiert: unsere besten Studenten wandern nach Westeuropa oder Amerika ab. Diese Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes wird mit dem Beitritt zur EU noch größer werden, und so besteht das große Risiko, das Kroatien in die Ausbildung investiert, doch die besten Experten, junge Ingenieure und Ärzte auswandern und nicht mehr zurückkehren. Das ist ein enormes Problem.“

7’54

Die Zweigniederlassung des Grazer Unternehmens AVL List zeigt, wie groß das Potential ist. Der weltgrößte private Betrieb für die Entwicklung, Simulation und Prüftechnik von Antriebssystemen beschäftigt in Zagreb einhundert Ingenieure, und auch zwei Großkonzerne haben ihre regionalen Zentren für junge Talente in Kroatien. Doch bisher fehlt die kritische Masse, um das Land zu einem modernen, wettbewerbsfähigen Industriestaat zu machen; daher steht Kroatien mit dem EU-Beitritt wohl ein äußerst schmerzlicher Anpassungsprozess bevor.

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