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Das Massaker von Srebrenica und die Rolle der niederländischen Blauhelme

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Berichte Bosnien
Das Massaker an 8000 Bosnjaken in Srebrenica im Juli 1995 ist auch 13 Jahre später noch nicht aufgearbeitet. Der mutmaßliche Hauptverantwortliche, General Ratko Mladic, ist noch immer auf der Flucht, und die Täter werden in Bosnien erst Schritt für Schritt vor Gericht gestellt. Gescheitert mit seiner Klage in Den Haag ist jüngst in erster Instanz Hasan Nuhanovic. Der nun 40-jährige arbeitete als Dolmetscher beim niederländischen UNO-Bataillon, das die Bosnjaken in der im April 1993 errichteten UNO-Schutzzone hätte schützen sollen. Nuhanovic verlor Bruder, Mutter und Vater, die die Blauhelme an die Serben ausgeliefert haben. Nuhanovic wirft den UNO-Soldaten Beihilfe zum Völkermord vor. Doch das Gericht in Den Haag wies Nuhanovics Klage ab; für das Verhalten ihrer Soldaten seien die Niederlande nicht haftbar, lautete die Begründung. Über seine Erlebnisse in Srebrenic hat mit Nuhanovic unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschuetz in Sarajewo gesprochen; hier sein Bericht

Am 11. Juli 1995 fiel Srebrenica in die Hand der bosnischen Serben unter General Ratko Mladic. Die Forderungen der niederländischen Blauhelme nach Luftangriffen erfüllten UNO und NATO nicht. Daher hatten die 400 leicht bewaffneten UNO-Soldaten gegen die 2.000 gut ausgerüsteten Serben keine Chance. Die von den Belagerern ausgehungerte Schutzzone fiel; aus dem von Granatbeschuss schwer in Mitleidenschaft gezogenen Srebrenica flohen die Bosnjaken in das wenige Kilometer entfernte Potocari, wo Dutchbat, das niederländische Bataillon, in einer ehemaligen Fabrik sein Hauptquartier hatte. Vor der Basis drängten sich bis zu 20.000 Flüchtlinge auf einem Quadratkilometer zusammen. Etwa 5.000 hatten es in die Basis geschafft, ehe die Niederländer den Zugang sperrten. Diese Bosnjaken lieferten die Blauhelme am 13. Juli den Serben aus. Den Vorgang beschreibt der ehemalige Dolmetscher, Hasan Nuhanovic, so:

„Die Niederländer zwangen die Flüchtlinge zuerst, beim Durchgehen durch die Hallentür alle Taschen zu leeren. Im Stützpunkt bis an die Zähne bewaffnet, nahmen die Niederländer den Menschen weg, was sie bei sich hatten. Sie sagten: Wenn ihr irgendeinen scharfen Gegenstand bei euch habt, werft ihn in diese Plastiksäcke“, die sie auf den Boden stellten, und dann mussten die Leute die Sachen hineinwerfen: Stifte, Kugelschreiber, Bleistifte, jemand hatte ein kleines Taschenmesser dabei, usw.“

An die Reihe kamen schließlich auch Nuhanovics damals 20-jähriger Bruder, sein Vater und seine Mutter. Als die Drei beim stellvertretenden Bataillonskommandanten, Major Franken, vorbeigingen, schöpfte Hasan Nuhanovic noch ein Mal Hoffnung:

„Während Mutter und Bruder weiter auf das Tor zugingen, sagte Major Franken zu mir: „Hasan, übersetze deinem Vater, dass er bleiben kann.“ Das war der Augenblick, in dem ich dachte, dass sich die Dinge zu unserem Vorteil wendeten, also es ging da um eine Sekunde, in der mir durch den Kopf ging, dass wir gerettet sind, dass meine Familie gerettet ist. Dann zeigte mein Vater in Richtung meiner Mutter und meines Bruders und fragte Franken. „Und was ist mit meinem jüngeren Sohn?“ Dann sagte Franken zu mir: „Übersetze deinem Vater, dass er bleiben oder hinausgehen kann, das ist seine Wahl“. Mein Vater lächelte, reichte Franken die Hand und lief weiter, um Bruder und Mutter einzuholen.“

Bis heute hat Nuhanovic die Leichen seiner Angehörigen nicht gefunden. Den Niederländern wirft er Beihilfe zum Völkermord vor:

„Ich habe versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren, doch ich habe keine Angaben darüber gefunden, dass Mladic von den Niederländern oder von der UNO gefordert hätte, ihm diese Zivilisten auszuliefern. Mladic interessierte sich in dem Augenblick nicht für diese Zivilisten. Mladic interessierte sich am meisten dafür, wo sich bewaffnete bosnische Streitkräfte aufhielten. Er dachte, dass er über die Vertreter der Bosniaken diesen Streitkräften ein Ultimatum stellen könnte, damit sie sich ergeben. Doch die anwesenden Vertreter der Bosnjaken vertraten nur die Flüchtlinge aus Potocari.“

Diese Behauptung stützt auch der Bericht der UNO vom November 1999 über die Ereignisse in Srebrenica. Darin findet sich kein Hinweis darauf, dass der bosnisch-serbische General Ratko Mladic die Auslieferung der Zivilisten gefordert hat. Sehr wohl aber enthält der UNO-Bericht klare Hinweise darauf, dass die Niederländer bereits von Erschießungen und Morden an männlichen Bosnjaken aber auch von Vergewaltigungen an Frauen wussten, die am 12. und am 13. Juli im Raum Potocari stattfanden. Hinzu kommt, dass Mladic und seine Soldaten bereits am 12. Juli mit dem Abtransport von Frauen und Kleinkindern sowie der Trennung von männlichen Personen im Alter von 17 bis 60 Jahren begonnen hatten. All das ließ wohl das Schlimmste befürchten, trotzdem lieferten die Niederländer um die Mittagszeit des 13. Juli ihre Schutzbefohlenen aus. Dazu sagt Hasan Nuhanovic:

„Wenn sie schon keine 5-6.000 Menschen im Stützpunkt halten konnten, warum ließen sie dann nicht die Männer da; sie wussten, dass es die Männer waren, um deren Leben es ging. Doch das niederländische Bataillon wollte einfach nur die Last los werden und damit anfangen, die eigene Evakuierung zu planen; und dabei standen natürlich die 5-6.000 Flüchtlinge im Weg; und darüber, was mit diesen Menschen passieren würde, wenn sie hinausgingen, darüber wollten die gar nicht nachdenken.“

Diese Darstellung haben ehemalige UNO-Soldaten bestritten. Doch der UNO-Bericht aus dem Jahre 1999 konstatiert eindeutig, dass die Blauhelme nicht ein Mal ihre vorgesetzten Dienststellen ausreichend über die Vorfälle in Potocari und Srebrenica informierten. Wie nachlässig vorgegangen wurde, zeigt das Schicksal einer Liste mit den Namen von 239 Männern, die zu den 5.000 Flüchtlingen in der Basis in Potocari zählten. Diese Liste ließ der stellvertretenden Dutchbat-Kommandant Major Franken erstellen. Doch bei den Gesprächen, die hochrangige internationale Vertreter am 14. und 15. Juli in Belgrad mit dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic und mit General Ratko Mladic führten, spielte diese Liste keine Rolle. Zu diesem Zeitpunkt war das Massaker voll im Gange; vielleicht hätte die Präsentation dieser Liste einige Leben retten können, doch die Liste blieb verschollen. Am 21. Juli zogen die restlichen 300 Blauhelme aus Srebrenica ab; über Belgrad kamen sie am 23. Juli nach Agram; mit ihnen erreichte ihr Dolmetscher Hasan Nuhanovic die kroatische Hauptstadt; dort begann seine Suche nach der Liste; Hasan Nuhanovic:

„Ich ging ins UNO-Kommando in Agram, dort sagten sie mir, dass sie nichts von einer Liste wüssten, ich war monatelang auf der Suche; doch erst der Organisation Human Rights Watch gelang es, über das niederländische Außenministerium die Liste zu finden; sie befand sich beim niederländischen Verteidigungsministerium in Den Haag in einer Schublade; angeblich hatte sie jemand dorthin gelegt, angeblich ohne zu wissen, dass das überhaupt eine wichtige Sache war und so lag die Liste dort drei Monate lang.“

13 Jahre sind seit dem Massaker vergangen, und noch immer kämpft Hasan Nuhanovic aus seiner Sicht vergeblich um Gerechtigkeit für die Opfer. Im Juli dieses Jahres wurde der frühere Präsident der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, in Belgrad verhaftet und an das Haager Tribunal ausgeliefert. Karadzic soll neben Ratko Mladic für das Massaker an den 8.000 Bosnjaken verantwortlich sein. Zum bevorstehenden Prozess sagt Hasan Nuhanovic:

Für die einfachen Menschen, die vor Ort leben, und für mich ist es viel wichtiger, dass die Kriegsverbrecher der mittleren und untersten Ebene abgeurteilt werden, also die direkten Vollstrecker und Auftraggeber. Karadzic war nicht in meiner Nachbarschaft; doch diese Kriegsverbrecher leben weiter in unserer Nachbarschaft. Wenn Karadzic und Mladic abgeurteilt sind, werden wir immer noch 12.000 Kriegsverbrecherprozesse in Bosnien-Herzegowina anhängig haben; das ist für mich ein viel größeres Problem, als Karadzic und Mladic.

Postscriptum: Der Kommandant der niederländischen Blauhelme, Oberstleutnant Thomas Karremans, ließ sich beim Abzug aus Srebrenica von Ratko Mladic sogar ein Geschenk für seine Frau überreichen. Nach seiner Rückkehr in die Niederlande wurde Karremans zum Oberst befördert. Im Dezember 2006 erhielten Karremans und 500 ehemalige UNO-Soldaten von der niederländischen Regierung einen Orden. Eine offizielle Entschuldigung der Niederlande bei den Hinterbliebenen von Srebrenica steht bis heute aus.

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