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Der Kampf der Kirche gegen die Blutrache

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In Albanien ist die Blutrache bis heute ein Problem. Zwar fehlen präzise Angaben über Opfer und die Zahl der betroffenen Familien, doch Schätzungen reichen von eintausend bis 10.000 Morden, die seit dem Sturz des Kommunismus vor mehr als 20 Jahren aus Motiven der Blutrache begangen worden sein sollen. Zwar ist die Blutrache kein ausschließlich katholisches Phänomen; doch am stärksten betroffen ist Nordalbanien, wo auch die meisten Katholiken leben. Die Katholische Kirche in Albanien hilft nicht nur Familien von Opfern, sondern kämpft auch mit allen kirchlichen Mitteln dagegen an. So erließen die drei Diözesen des Nordens nun ein Dekret, das Personen, die aus Motiven der Blutrache getötet haben, mit der Exkommunikation bedroht, und erste Fälle des Kirchenbanns gab es bereits. In Nordalbanien und in Tirana hat unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz mit Bischöfen gesprochen und Opfer-Familien besucht, und den folgenden Beitrag über den Kampf der Katholischen Kirche gegen die Blutrache gestaltet.

Insert1: 0‘33 Mentor Kikia Organisator der Proteste

Insert2: 1’44 Tom Quku, Familienvater

Insert3: 2’17 Shaqe Quku, Marijas Mutter

Insert4: 3’17 Luigi Mila, Generalsekretär von Justitia et Pax in Albanien

Insert5: 3’49 Aleks Hajdari, Polizeichef von Shkodra

Insert6: 4’38 Angelo Massafra, Erstbischof und Metropolit von Shkodra

Insert7: 5’30 Rrok Mirdita Erzbischof von Tirana

Insert8: 6’23 Luigi Mila, Generalsekretär von Justitia et Pax in Albanien

Insert9: 7’07 Massafra Erstbischof und Metropolit von Shkodra

Insert10: 7’58 Luigi Mila, Generalsekretär von Justitia et Pax in Albanien

Insert11: 8’28 Simon Shkreli, Fernsehjournalist in Shkodra

Insert12: 9’55 Dionis Maka, Franziskanerpater

Insert13: 10’16 Zef Prela, Vater des Mordopfers

Insert14: 11’10 Musa Kurtulaj, Chefredakteur eines TV-Senders in Shkodra

Gesamtlänge: 11’56

Kamera: Spatak Papadhimitri

Schnitt: Mica Vasiljevic

Unterstützung:

Justitia et Pax in Albanien

Tv1-channel tv (Privatsender in Shkodra)

Orden der Franziskaner (Wien / Shkodra)

Text:

Ein unscheinbarer Friedhof etwas außerhalb der nordalbanischen Stadt Shkodra. Hier liegen zwei Opfer der Blutrache, die 17-jährige Marija Quku und ihr 70-jähriger Großvater Kola. Beide wurden im Juni in den Hochalmen Nordalbaniens von angeblich unbekannten Tätern erschossen. In Shkodra reagierte eine Nicht-Regierungs-Organisation mit einem Protestzug gegen die Blutrache; sie geht auf das mittelalterliche albanische Gewohnheitsrecht zurück, dessen bekannteste Fassung der Kanun des Lekë Dukagjini ist:

Marias Porträt in der Hand ist ein Symbol für den Aufstand unserer Bürger gegen dieses monströse Verbrechen der Blutrache, das weiter auf brutale Weise Menschenrechte verletzt; das ist ein Symbol gegen ein Verbrechen, das Staat und Gesellschaft noch immer herausfordert. Wir sind hier heute im Namen von Maria, um dem Staat zu sagen, erhebe die starke Faust des Gesetzes gegen dieses Verbrechen. Im Namen von Maria sagen wir auch den Menschen, bleibt nicht ruhig zu Hause, wenn es Kinder gibt, die unter Isolierung leiden.“

Anschließend wurde eine Botschaft gegen die Blutrache in die Welt geschickt. Doch von Bewegungsfreiheit kann im Fall von Marijas Familie nicht die Rede sein, die in der Nähe des Friedhofs wohnt. Shaqe Quku ist Hausfrau und hat vier Kinder; die Verhältnisse sind ärmlich; unterstützt wird die Familie von Verwandten; betreut wird sie auch von der katholischen Kirche, die sich um viele Familien kümmert, die von der Blutrache betroffen sind. Ehemann Tom ist arbeitslos; aus Angst vor weiteren Mordanschlägen getraut er sich nicht, das Haus zu verlassen und eine Arbeit anzunehmen:

„Der Konflikt begann durch einen Streit meines Onkels mit seinem Nachbarn. Es war ein Streit um das Wasser, und mein Onkel tötete seinen Nachbarn. Seit damals sind wir im Haus isoliert; und mein Vater und meine Tochter wurden getötet."

Trotz der Morde ist der Konflikt noch nicht beendet, weil sich die andere Familie weigert, die Verantwortung für das Verbrechen zu übernehmen; daher lebt die Familie Quku weiter in Angst, in ihrem Haus isoliert, und mit dem tiefen Schmerz über die verlorenen Angehörigen:

"Ich wünsche nur, dass so etwas nie wieder passiert, was uns widerfahren ist. Die Tragödie war furchtbar. Sie ging, um ihrem Großvater bei der Arbeit zu helfen, um das Land zu pflügen in den Bergen, und dort bei der Arbeit wurden beide getötet."

In Nordalbanien weisen Familien, die von Blutrache betroffen sind, ähnliche soziale Muster auf. Viele sind arm, Zuwanderer aus den Bergregionen, und haben nur die Grundschule abgeschlossen. Bei Männern ist Alkoholismus oft ein Problem; wenn überhaupt arbeiten nur die Frauen, die weniger gefährdet sind. Für ältere Kinder ist der Schulbesuch oft zu riskant. Diese Grundschule zählt 600 Schüler, drei werden wegen der Blutrache zu Hause unterrichtet, weitere zwei haben sich mit ihren Familien ins Ausland abgesetzt. Hinzu kommt die Armut, die den Schulbesuch ebenfalls beeinträchtigt:

„Wir haben gerade eine Aktion beendet, wo wir Schulbücher und Schulmaterial an isolierte Familien in den Dörfern in der Umgebung von Shkodra verteilt haben. Außerdem bemühen wir uns natürlich, zur Aussöhnung zwischen Familien beizutragen."

Shkodra zählt 100.000 Einwohner. Zwischen 2001 und 2011 gab es in der Stadt fast 230 Morde, 40 davon qualifizierte die Polizei als Blutrache, die so definiert wird:

"Eine Familie oder eine Person sehen wir dann der Blutrache ausgesetzt, wenn es davor einen Mord oder eine Körperverletzung geben hat, für die die andere Partei eine Tilgung der Schuld verlangt. Wenn die geschädigte Partei dann einen Mord oder eine schwere Körperverletzung begeht, und zwar wegen eines Mords, der davor stattgefunden hat, dann wird der Fall als Blutrache qualifiziert."

Nach Angaben der Polizei soll die Zahl der Fälle ständig zurückgehen. Selbst wenn das stimmt, haben Gemeinde und Staat vor allem keine Lösung für das Schicksal der isolierten Familien gefunden. Die Katholische Kirche griff daher im September zu einem drastischen Mittel; per Dekret verhängte sie den Kirchenbann und damit die Exkommunikation über jeden, der aus Blutrache tötet:

"Das Dekret ist ein Appell, das Leben zu schützen, und unsere Hirne, Herzen und Hände zu entwaffnen. Aber es ist auch ein Schlag gegen die Korruption. Das Dekret sagt klar, dass der Staat seine Glaubwürdigkeit zurückgewinnen muss. Denn einer der korruptesten Bereiche ist die Justiz. Oft ist es geschehen, dass Blutrache-Mörder nach einigen Jahren freigekommen sind; auch das provoziert Selbstjustiz. Wir fordern die lebenslange Freiheitsstrafe und einen gemeinsamen Kampf von Kirche und Zivilgesellschaft gegen die Blutrache."

Doch in der Kirche ist das Dekret umstritten. Nicht unterzeichnet hat es Rrok Miredita, der Erzbischof von Tirana. Abgesehen von grundsätzlichen Einwänden gegen die Exkommunikation zweifelt er an seiner praktischen Wirkung:

"Nehmen wir den Fall eines Konflikts zwischen einer katholischen und einer muslimischen Familie. Einer geht in die Kirche, der andere in die Moschee, aber man hat die gleichen Gewohnheiten und Regeln. Der Katholik hat zuerst einen Muslim getötet, dann tötet der Muslim zwei Katholiken. Doch der Muslim unterwirft sich nicht dem Dekret der Kirche, doch der Katholik unterliegt ihm. Außerdem hat auch die Migration zu einer ganz neuen Lage geführt."

Gemeint ist damit die Zuwanderung nach Tirana und in den Süden, die auch zur Verbreitung der Blutrache führt.

Trotzdem ist sie noch vorwiegend ein Problem des katholischen Nordens. Knapp 140 isolierte Familien erhob die Kirche, mehr als die Hälfte davon lebt im Norden, wobei nicht nur katholische Familien betroffen sind.

"Wir haben auch muslimische oder orthodoxe Familien, die an Konflikten beteiligt sind. So haben wir in einem Dorf 11 muslimische Familien, und da geht es um einen Konflikt mit einer katholischen Familie, wobei ein Polizist von seinem Kollegen erschossen wurde; diese Familien sind ebenfalls isoliert."

Doch mehrheitlich sind des Katholiken; und der Ausschluss von Sakramenten, der mit der Exkommunikation verbunden ist, dürfte daher nicht wirkungslos bleiben, zählen doch Hochzeiten zu den ganz besonderen Festen in Albanien.

Natürlich setzt die Kirche auch auf Erziehung zu Toleranz und Frieden, etwa im Religionsunterricht, weil der Bann nur eine von vielen Maßnahmen sein kann:

"Gelehrt werden muss der Wert des Lebens und der Respekt vor ihm. Außerdem müssen wir die Mentalität ändern, wonach das Waffentragen in den Straßen erlaubt ist. Dagegen predige ich oft. Denn natürlich gibt es im täglichen Leben Konflikte, aber die müssen ohne Waffen gelöst werden; Blutrache wird oft nur als Rechtfertigung genutzt, doch ein Mord ist und bleibt ein Mord."

Diesem Eingeständnis steht die Mentalität entgegen. Zwar hängt auch in dieser Schule ein Plakat mit der Aufschrift „Wir sagen nein zur Blutrache“; doch bei einer Umfrage der Kirche gaben fast 60 Prozent der Jugendlichen im Alter von 17 und 18 Jahren an, sie seien bereit, ein ermordetes Familienmitglied zu rächen. Denn der soziale Druck ist groß und zwar gerade in den Familien selbst:

"Im allgemeinen haben wir Fälle, wo Mütter gegen die Aussöhnung sind, und leider Mütter die Blutrache fordern, wobei sogar der Kanun sagt, dass die Mutter das letzte Wort hat, ob vergeben wird oder nicht. Die Mutter hat das Recht auf dieses letzte Urteil."

Und dieses Urteil fällt oft gegen die Aussöhnung aus. Davon wissen auch viele Journalisten in Shkodra ein Lied zu singen, die immer wieder über derartige Morde zu berichten haben:

"Ich kenne einen Fall von Blutrache, und darauf bestanden hat gerade die Mutter, der ein Sohn ermordet wurde. Sie sagte ihren anderen Sohn ständig und zwar selbst beim Essen - wie kannst Du überhaupt essen, Dein Bruder wurde ermordet, und der Täter läuft noch frei herum. So verlangt nicht nur das Umfeld, sondern die Familie selbst nach Rache."

Aussöhnungen wie hier unter dem Patronat der Kirche gelingen daher nur selten, wobei als Argument immer wieder das jahrhundertealte albanische Gewohnheitsrecht ins Treffen geführt wird.

Doch gerade der Kanun sieht auch Verfahren zur Vermeidung von Blutrache vor, und der Priester ist nach dem Kanun sakrosankt.

Diese nutzte der Franziskaner Dionis Maka, der mehr als 90 Jahre alt wurde, und dem mehr als 100 Aussöhnungen gelangen. In diesem historischen Filmdokument gelingt in Nordalbanien am Ostersonntag die Versöhnung der Familie von Zef Prela, dessen Sohn ermordet wurde, mit der Familie von Tom Zefi, dem Vater des Mörders. Im Beisein der Bajraktars, der Ehrwürdigsten der Region, ruft der Franziskaner die Konfliktparteien auf:

„Die, die ihr Zeugen von Konflikten seid, söhnt sie aus; die, die ihr Konflikte habt, seid tolerant. Folgt nicht dem falschen Weg der Konflikte. Lasst uns etwas Fortschritte machen, die Religion braucht euch, heute mehr als jemals zuvor.“

Nach Beratung der Familie und der nach dem Kanun ausschlaggebenden Zustimmung der Mutter, kann dann die Aussöhnung verkündet werden:

„Ich war sehr schwach, doch durch diese große Nacht und diese Männer, und wegen des Franziskaner-Priesters, der der Führer unseres Glaubens ist, macht ihr mich zu einem starken Mann, wie ihr selbst seid. Das Blut meines Sohnes, möge es vergeben sein wegen dieses großen Tages. Möge das Blut meines Sohnes Dir vergeben sein, Tom Zefi.“

Was folgt ist die Aussöhnung im Zeichen des Kreuzes durch die Familien, die dann gemeinsam rauchen, trinken und essen. Doch aus Blutfehde müssen noch Blutsbrüder werden, um die rituelle Aussöhnung zu besiegeln.

Doch in der Gegenwart werden die Regeln des Kanun kaum mehr beachtet. Und so wurde vor diesem Kaffee in Shkodra vor zwei Jahren dieser evangelische Priester erschossen. Tatmotiv war die Blutrache:

„Ich sage, dass 95 Prozent der Morde in Nordalbanien nichts mit dem Kanun zu tun haben. Obwohl er zur Rechtfertigung dient, werden seine Normen nicht respektiert. Kein Kanun sagt, dass man ein Kind oder eine Frau töten oder Mitglieder eine Familie isolieren soll. Eine Rechtfertigung mit dem Kanun erscheint mir daher inakzeptabel."

Die Ursachen der Blutrache sind somit vielschichtiger. Hauptproblem dürfte die Schwäche des Staates und der Justiz sein. So lange sich das nicht ändert, werden Luigi Mila und die katholische Kirche noch so manche Opfer zu betrauern und ihre isolierten Familien zu versorgen haben.

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